Wer­de er­wach­sen im Glauben

Wer­de er­wach­sen im Glauben

SPRE­CHER:
Wenn der Hans zur Schu­le ging
Stets sein Blick am Him­mel hing
Nach den Dä­chern, Wol­ken, Schwalben
Schaut er auf­wärts allenthalben:
Vor die eig­nen Füße dicht,
Ja, da sah der Bur­sche nicht,
Also dass ein je­der ruft:
›Seht den Hans Guck-in-die-Luft!‹  

Einst ging er an Ufers Rand 
Mit der Map­pe in der Hand
Nach dem Blau­en Him­mel hoch
Sah er, wo die Schwal­be flog
Also dass er kerzengrad
Im­mer mehr zum Flus­se trat
Noch ein Schritt! und plumps!
der Hans Stürzt hin­ab kopf­über ganz!  

Doch zum Glück da kom­men zwei
Män­ner aus der Näh’ herbei,
Und sie ha­ben ihn mit Stangen
Aus dem Was­ser aufgefangen.

Seht! Nun steht er trie­fend naß!
Ei! das ist ein schlech­ter Spaß!¹

MU­SIK:
Egyp­ti­an Phan­ta­sie – Vin­cent Pei­ra­ni & Emi­le Pa­ri­si­en – Bel­le Épo­que  

AU­TOR:
Ja, der Hans-Guck in die Luft – wer kennt ihn nicht, die­se Fi­gur aus der Fe­der von Wil­helm Busch. So er­geht es ei­nem, wenn man nicht dar­auf ach­tet, wo­hin man geht. Ir­gend­wann macht man sich lang und fällt wie der Hans-Guck-in-die-Luft auf die Nase.
„Ihr Män­ner von Ga­li­läa, was steht ihr da und schaut zum Him­mel em­por?“ So rü­gen zwei En­gel die Apos­tel in dem Bi­bel­text, der heu­te tra­di­tio­nell in den Kir­chen ver­le­sen wird.
Die Jün­ger, die da auf­wärts bli­cken, schau­en Chris­tus nach, der in den Him­mel auf­fährt. Es ist Him­mel­fahrts­tag, Chris­ti Him­mel­fahrt. Die­ses Fest wird heu­te be­gan­gen, um sich dar­an zu er­in­nern, dass Je­sus nach der Auf­er­ste­hung sei­nen Jün­gern zwar er­schie­nen ist, aber nicht bei ih­nen blieb. Dass er sei­ne Bot­schaft da­mit be­stä­tig­te, ih­nen aber die Fort­füh­rung sei­nes Wir­kens und sei­ner Mis­si­on an­ver­trau­te. Ein durch­aus ris­kan­tes Un­ter­fan­gen, wenn man be­denkt, dass in den ent­schei­den­den Mo­men­ten alle im­mer da­von­rann­ten oder an­der­wei­tig ver­sag­ten. Ju­das ver­rät Je­sus. Pe­trus ver­leug­net ihn. Sie alle tür­men, als Je­sus fest­ge­nom­men wird. Ganz zu schwei­gen von all den Ge­le­gen­hei­ten, in de­nen die Jün­ger nicht ver­stan­den, was Jesu An­lie­gen war.  

„Ihr Män­ner von Ga­li­läa, was steht ihr da und schaut zum Him­mel empor?“
Aber das ist doch na­tür­lich, dass sie ihm nach­schau­en. Ihm, der in den Him­mel auf­ge­nom­men wird. So ein Spek­ta­kel sieht man schließ­lich nicht alle Tage.
Si­cher­lich liegt in den Bli­cken der Apos­tel auch et­was Weh­mut und Schmerz über den Ab­schied von ih­rem Herrn. Wie wird es wei­ter­ge­hen, ohne ihn an der Sei­te zu haben?
Der Ruf der En­gel ist die Auf­for­de­rung zum Per­spek­ti­ven­wech­sel. Die Apos­tel sol­len die Welt mit neu­en Au­gen se­hen und ge­stal­ten ler­nen, jetzt, wo ihr Herr im Him­mel ist.
Des­halb ist christ­li­che Re­li­gi­on eben nicht »Opi­um für das Volk«, wie es Karl Marx ihr einst at­tes­tier­te. Chris­ten sol­len nüch­ter­ne, rea­lis­ti­sche Men­schen sein, die ih­rer Hoff­nung auf eine er­lös­te Welt in die­ser un­er­lös­ten Welt Aus­druck verleihen.
So er­in­nert der Ja­ko­bus­brief dar­an, dass der Glau­be von Na­tur aus ge­ra­de­zu drängt, sich in der Welt zu zei­gen: 

SPRE­CHER:
„Stellt euch vor, in eu­rer Ge­mein­de sind ei­ni­ge in Not. Sie ha­ben we­der et­was an­zu­zie­hen noch ge­nug zu essen.
Wenn nun ei­ner von euch zu ih­nen sagt: ‚Ich wün­sche euch al­les Gute! Hof­fent­lich be­kommt ihr war­me Klei­der und könnt euch satt es­sen!‘, was nützt ih­nen das, wenn ihr ih­nen nicht gebt, was sie zum Le­ben brauchen?
Ge­nau­so nutz­los ist ein Glau­be, der nicht in die Tat um­ge­setzt wird: Er ist tot.“  

AU­TOR:
Der Glau­be ver­langt nach Pra­xis. Nur so wird al­len die neue, wun­der­ba­re Per­spek­ti­ve er­öff­net: es gibt ein ewi­ges Le­ben, das un­se­re Sehn­sucht ein­mal stil­len wird und das die Men­schen schon hier und jetzt zu spü­ren und zu er­fah­ren bekommen.
Vom Him­mel her le­ben heißt: auf eine Hei­mat hin zu le­ben, un­ter­wegs mit ei­ner an­de­ren Hoff­nung, ei­ner an­de­ren Zu­ver­sicht, ei­nem an­de­ren Ge­schmack von Le­ben. Ei­nem Ge­schmack, der hier in die­ser Welt zum Aus­druck kom­men soll und zwar wir­kungs­voll für alle, die am Le­ben und der Welt lei­den. 

MU­SIK:
In­cu­bus: Fly­ing Ma­chi­nes – Mi­cha­el Ny­man & Mi­cha­el Ny­man Band – McQueen 

SPRE­CHER:
„Das ist un­se­re Hoff­nung. Mit die­sem Glau­ben keh­re ich in den Sü­den zurück.
Mit die­sem Glau­ben wer­den wir fä­hig sein, aus dem Berg der Ver­zweif­lung ei­nen Stein der Hoff­nung zu hau­en. Mit die­sem Glau­ben wer­den wir fä­hig sein, die schril­len Miss­klän­ge in un­se­rer Na­ti­on in eine wun­der­ba­re Sym­pho­nie der Brü­der­lich­keit zu ver­wan­deln. Mit die­sem Glau­ben wer­den wir fä­hig sein, zu­sam­men zu ar­bei­ten, zu­sam­men zu be­ten, zu­sam­men zu kämp­fen, zu­sam­men ins Ge­fäng­nis zu ge­hen, zu­sam­men für die Frei­heit auf­zu­ste­hen, in dem Wis­sen, dass wir ei­nes Ta­ges frei sein wer­den.“²

AU­TOR:
Die­se Sät­ze spricht Mar­tin Lu­ther King in sei­ner ein­zig­ar­ti­gen Rede „I Have a Dream“ am 28. Au­gust 1963 in Wa­shing­ton. King ließ sich von der fi­nan­zi­el­len und po­li­ti­schen Macht­lo­sig­keit der Afro­ame­ri­ka­ner in den USA nicht ent­mu­ti­gen. Der ver­steck­te Ras­sis­mus im Sys­tem und die of­fe­ne ras­sis­ti­sche Aus­gren­zung und Ge­walt, der die Bür­ger­rechts­be­we­gung in den 1950er- und 60er-Jah­ren ge­gen­über­stand, wa­ren enorm. Aber King wuss­te, wie Gott ty­pi­scher­wei­se wirkt: aus klei­nen An­fän­gen und gro­ßer Schwä­che her­aus durch Die­nen und Op­fer hin zur Veränderung.
King war kein son­ni­ger Op­ti­mist. Wenn man sei­ne Re­den und Brie­fe liest, spürt man sei­nen Zorn und sei­ne nur zu be­rech­tig­ten Ängs­te – aber auch die nicht klein­zu­krie­gen­de Hoff­nung. Da­mit liegt er ganz auf der Li­nie Jesu und den mah­nen­den Wor­ten des Ja­ko­bus: „Ein Glau­be, der nicht in die Tat um­ge­setzt wird, ist tot.“
Vie­le ha­ben dar­auf hin­ge­wie­sen, dass an der Spit­ze der ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­rechts­be­we­gung afro­ame­ri­ka­ni­sche Pas­to­ren und füh­ren­de Chris­ten stan­den, so­dass die Bi­bel­zi­ta­te in ih­ren Re­den und Auf­ru­fen mehr wa­ren als nur hoch­tra­ben­de Wor­te. Sie wa­ren Aus­druck des Glau­bens und ei­ner in Gott ver­wur­zel­ten Hoff­nung. Und heu­te? Tod, Pan­de­mien, Un­ge­rech­tig­keit, aus­ein­an­der­bre­chen­de Ge­sell­schaf­ten – wir brau­chen wie­der ei­nen Stein der Hoff­nung. Drin­gend. 

MU­SIK:
Time Lap­se – Mi­cha­el Ny­man – Film Mu­sic 1980–2001  

AU­TOR:
Kyle Har­per ist ein His­to­ri­ker, der über die Epi­de­mien in der An­ti­ke ge­forscht hat. Er wur­de in ei­nem In­ter­view ge­fragt, wie das Chris­ten­tum es da­mals schaff­te, in die­sen schwe­ren Zei­ten zur Blü­te zu kom­men. Sei­ne Ant­wort:  

SPRE­CHER:
Für Chris­ten war „die­ses Le­ben im­mer schon ver­gäng­lich, nur ein Teil ei­ner grö­ße­ren Ge­schich­te. Wor­auf es für den Chris­ten an­kam, war, sein Le­ben auf die­se grö­ße­re Ge­schich­te aus­zu­rich­ten – die kos­mi­sche Ge­schich­te, die Ge­schich­te der Ewig­keit. Die Chris­ten leb­ten in die­ser Welt und sie er­leb­ten Schmerz­li­ches und lieb­ten ihre Mit­men­schen. Aber Chris­ten je­ner Zeit sa­hen die Ge­schich­te die­ses Le­bens als nur eine der Ge­schich­ten, in de­nen sie leb­ten. Es gab ein grö­ße­res Bild, und das war die ge­hei­me Land­kar­te, nach der sie sich ori­en­tier­ten.“³

AU­TOR:
Die „ge­hei­me Land­kar­te“ der Chris­ten ging über üb­li­chen re­li­giö­sen Trost weit hin­aus. An­de­re Re­li­gio­nen spra­chen zum Bei­spiel von der va­gen Aus­sicht auf ein bes­se­res Le­ben im Jen­seits, wenn die mo­ra­li­sche Leis­tung bis da­hin stimm­te. Die Hoff­nung der Chris­ten bot weit mehr als die­ses ängst­li­che Wunsch­den­ken. Das bi­bli­sche Wort „el­pis“ – im Deut­schen über­setzt mit dem re­la­tiv schwa­chen Wort „Hoff­nung“ – meint eine tie­fe, ab­so­lut ge­wis­se Zu­ver­sicht. Chris­ten be­trach­ten selbst die wid­rigs­ten Din­ge als Teil ei­ner Ge­schich­te, die bei je­der neu­en Epi­so­de von Gott zu ei­nem Ziel ge­lei­tet wird. Und die­ses Ziel ist nicht die ne­bu­lö­se Er­war­tung ir­gend­ei­ner Art von Le­ben nach dem Tod, son­dern die Auf­er­ste­hung von Leib und See­le in ei­nen neu­en Him­mel und eine neue Erde. Der ame­ri­ka­ni­sche Jour­na­list Rod Dre­her ent­deckt, dass die­ses Ziel kei­ne Ver­trös­tungs­stra­te­gie ist, son­dern Chris­ten zu welt­ver­än­dern­dem En­ga­ge­ment mo­ti­viert. 

SPRE­CHER:
„Wenn Sie in die Ge­schichts­bü­cher schau­en, wer­den Sie fest­stel­len, dass die Chris­ten, die am meis­ten für die ge­gen­wär­ti­ge Welt ge­tan ha­ben, ge­ra­de die­je­ni­gen wa­ren, die am höchs­ten von der zu­künf­ti­gen Welt dach­ten. Die Apos­tel selbst, die die Be­keh­rung des Rö­mi­schen Rei­ches in Gang brach­ten, die gro­ßen Per­sön­lich­kei­ten, die das Mit­tel­al­ter ge­stal­te­ten, die eng­li­schen Evan­ge­li­ka­len, die den Skla­ven­han­del ab­schaff­ten – sie alle hin­ter­lie­ßen ihre Spu­ren auf der Erde, ge­ra­de weil sie mit den Ge­dan­ken schon im Him­mel wa­ren. (…) Zielt man auf den Him­mel, so be­kommt man die Erde als “Zu­ga­be”; zielt man auf die Erde, so be­kommt man keins von bei­den.“

AU­TOR:
Das ist es, was der christ­li­che Glau­be ei­ner Welt bie­ten kann, die of­fen­sicht­lich nicht mehr das Ge­fühl hat, ei­ner ver­hei­ßungs­vol­len Zu­kunft ent­ge­gen­zu­ge­hen, son­dern ei­nem Ab­grund da­von­zu­lau­fen, der sie von hin­ten ein­holt. Die­ser Glau­be, der die Apos­tel am Him­mel­fahrts­tag in die Welt hin­aus­schickt, wird zu ei­nem Le­bens­rhyth­mus, wird zu ei­ner Ethik und ei­ner Art, die Welt mit al­lem, was da­zu­ge­hört, zu se­hen, in ihr zu le­ben und zu wir­ken. 

MU­SIK:
Here to The­re – Mi­cha­el Ny­man – Film Mu­sic 1980–2001  

AU­TOR:
Wenn die Bi­bel ei­nes über das Reich Got­tes aus­sagt, dann dies, dass es ein Reich der Ge­rech­tig­keit ist. Im Lu­kas­evan­ge­li­um er­klärt Je­sus, dass das Reich Got­tes kommt, um „den Ar­men eine gute Bot­schaft zu brin­gen“ und „den Un­ter­drück­ten die Frei­heit“. Die Bi­bel for­dert nir­gends dazu auf, für die Rei­chen und Mäch­ti­gen ein­zu­tre­ten, aus dem ein­fa­chen Grun­de, dass die­se das nicht nö­tig ha­ben. Statt­des­sen sagt sie im Buch der Sprich­wör­ter: „Öff­ne dei­nen Mund für die Stum­men, für das Recht all de­rer, die sonst nie­mand ha­ben. […] ver­schaf­fe den Ar­men und Schwa­chen ihr Recht!“
Chris­ten, die sich auf die Fül­le des Rei­ches Got­tes freu­en, auf die gro­ße end­gül­ti­ge Auf­er­ste­hung und den neu­en Him­mel und die neue Erde, soll­te es also ein An­lie­gen sein, dass schon hier und jetzt Ge­rech­tig­keit geschieht.
Für die­sen Ein­satz hat Je­sus sei­ne Jün­ger ge­schult und ih­nen Per­spek­ti­ven an die Hand ge­ge­ben. So liegt die Idee der Got­tes­eben­bild­lich­keit al­ler Men­schen auch hin­ter der scho­ckie­ren­den Aus­sa­ge Jesu im Mat­thä­us­evan­ge­li­um, dass ei­nen Men­schen be­lei­di­gen – ihn „Dumm­kopf“ oder „Idi­ot“ nen­nen – eine Art Mord ist, ein An­griff auf sei­ne Men­schen­wür­de. Aus die­ser Lo­gik wird der Apos­tel Ja­ko­bus spä­ter vor dem gro­ßen Übel war­nen, die Men­schen je nach ih­rer Ein­kom­mens­klas­se un­ter­schied­lich zu be­han­deln. Wir müs­sen alle Men­schen mit glei­cher Fair­ness und glei­chem Re­spekt be­geg­nen, un­ab­hän­gig von Eth­nie, Schicht, Ge­schlecht, Fä­hig­kei­ten und Verhalten.

Der Mensch ist Got­tes Eben­bild. Ein Bild, das ist ein Kunst­werk, et­was, das gro­ßes Kön­nen er­for­dert hat. Wir Men­schen sind kein Zu­fall, son­dern Ge­schöp­fe. So ge­se­hen ist je­der Mensch ein­zig­ar­tig und als Bru­der oder Schwes­ter zu be­trach­ten, als ein We­sen, das ge­nau wie ich vom glei­chen Schöp­fer ge­macht ist, und dar­um Wür­de hat. Der iri­sche Schrift­stel­ler C.S. Le­wis schreibt:  

SPRE­CHER:
Es gibt kei­ne ge­wöhn­li­chen Men­schen. Wir ha­ben nie mit blo­ßen Sterb­li­chen ge­spro­chen. Na­tio­nen, Kul­tu­ren, Küns­te und Zi­vi­li­sa­tio­nen sind sterb­lich – ihr Le­ben ist ge­gen­über dem un­se­rem wie das Le­ben ei­ner Mü­cke. Aber es sind Un­sterb­li­che, mit de­nen wir scher­zen, ar­bei­ten, ver­hei­ra­tet sind, die wir kurz ab­fer­ti­gen und aus­beu­ten.

AU­TOR:
Un­se­re Got­tes­eben­bild­lich­keit ist ein gro­ßes Mo­tiv da­für, ein Le­ben groß­zü­gi­ger Ge­rech­tig­keit zu le­ben, für die Be­dürf­nis­se der Men­schen um uns zu sor­gen und für ihre Rech­te ein­zu­tre­ten. Sie lässt uns de­mü­tig vor der Grö­ße je­des ein­zel­nen Men­schen als ge­lieb­tem Ge­schöpf Got­tes ste­hen.  

Nun wird man ent­ge­gen­hal­ten kön­nen, dass doch bei den Kir­chen wahr­lich nicht al­les im Lot ist und mil­li­ar­den­schwe­re Bis­tü­mer nicht un­be­dingt ein Hort so­zia­ler Ge­rech­tig­keit sind. Stimmt! Ganz si­cher so­gar! Und es ist eine Schande.
Man kann an­de­rer­seits aber auch nicht igno­rie­ren, dass es sehr vie­le Men­schen in den Kir­chen gibt, die Mo­ral- und Wert­vor­stel­lun­gen wie die Ach­tung der Men­schen­wür­de, So­li­da­ri­tät oder Barm­her­zig­keit durch ihr täg­li­ches Tun le­ben und ver­mit­teln. Die im bes­ten Sin­ne die­se Über­zeu­gun­gen zum Ge­mein­gut ma­chen und so Ent­frem­dungs­ten­den­zen in un­se­rer ge­sell­schaft­li­chen Ent­wick­lung teil­wei­se kom­pen­sie­ren. 

MU­SIK:
Re­vi­si­ting Don – Mi­cha­el Ny­man – Ny­man Mo­zart: 252  

SPRE­CHER:
„Be­den­ke, wie viel Gott für uns ge­tan hat. […] Er scheu­te sich nicht, sich selbst zu ver­leug­nen […] um uns reich zu ma­chen und mit kö­nig­li­chen Ge­wän­dern zu be­klei­den, als wir nackt wa­ren; um uns an sei­nem ei­ge­nen Tisch mit un­end­lich kost­ba­ren Spei­sen zu la­ben, als wir hun­ger­ten; um uns vom Mist­hau­fen zu ho­len und ei­nen Platz un­ter Prin­zen zu ge­ben und den Thron sei­ner Herr­lich­keit er­ben zu las­sen und uns so in alle Ewig­keit den schöns­ten Reich­tum und die größ­te Fül­le ge­nie­ßen zu las­sen. […] Wenn wir all dies be­den­ken, was für eine Schan­de ist es dann, wenn die, die auf die­se Reich­tü­mer hof­fen dür­fen, es nicht fer­tig­brin­gen, ohne Mur­ren ih­rem ar­men Nächs­ten et­was zur Lin­de­rung sei­ner Not zu ge­ben! […] Was wäre denn aus uns ge­wor­den, wenn Chris­tus so gei­zig mit sei­nem Blut ge­we­sen wäre, wie vie­le Men­schen es mit ih­rem Geld und Gut sind?“

AU­TOR:
Die­se Wor­te stam­men von Jo­na­than Ed­wards, ei­nem bri­ti­schen Pre­di­ger und Mis­sio­nar, dem es ein An­lie­gen war, ge­sell­schaft­li­che Kon­se­quen­zen aus der Bot­schaft Jesu zu zie­hen. Was er hier sagt, ist für mich eine Grund­über­zeu­gung des Christ­li­chen. Der Grund mei­ner Exis­tenz ist nicht das schwei­gen­de Uni­ver­sum, der nack­te Zu­fall oder gar ein feind­li­ches Ge­gen­über; son­dern dort steht je­mand, der spricht: »Ich habe dich bei dei­nem Na­men ge­ru­fen, du bist mein.« Da ist ei­ner, der hat mich ge­wollt und er hört mich auch. Die­se Über­zeu­gung for­dert mich zu ei­ner Ant­wort und ei­nem En­ga­ge­ment in mei­ner Le­bens­welt. 

Je­sus hat das Evan­ge­li­um al­len Men­schen ge­pre­digt. Doch la­gen ihm die Ar­men und Elen­den be­son­ders am Her­zen. Als Je­sus Mensch wur­de, ist er bei den Ar­men „ein­ge­zo­gen“. Er leb­te, aß und ver­kehr­te mit den so­zi­al Geächteten.
Je­sus de­mons­trier­te ech­te Ge­rech­tig­keit auch da­durch, dass er sich für sol­che Klas­sen von Men­schen öff­ne­te, de­ren Ar­mut nicht in ers­ter Li­nie ma­te­ri­ell war. Er aß und sprach mit Steu­er­ein­neh­mern – den reichs­ten und gleich­zei­tig ver­hass­tes­ten Glie­dern der da­ma­li­gen Gesellschaft.
Je­sus mach­te sich zu ei­gen, den Zu­stand des Her­zens an­hand des Ein­sat­zes für Ge­rech­tig­keit zu ana­ly­sie­ren und die­sen als Zei­chen für ech­ten Glau­ben zu be­nut­zen.  

Wenn ich ein ge­rech­te­res Land will, das ei­nen hu­ma­ne­ren Um­gang mit al­len pflegt, die hier le­ben, dann muss ich den Wil­len und auch den Mut ha­ben, mich da­für ein­zu­set­zen und mich ge­ge­be­nen­falls auch an­zu­le­gen. Die Re­li­gio­nen, oder ge­nau­er: die re­li­giö­sen Men­schen sind dazu in der Lage, weil sie grund­le­gen­de Mo­ral- und Wert­vor­stel­lun­gen in die Ge­sell­schaft hin­ein­tra­gen. Das ist der be­frei­en­de Ge­halt re­li­giö­ser Ideen.
Letzt­lich geht es im­mer um die Fra­ge, in wel­cher Ge­sell­schaft wir le­ben wollen.
Eine ge­sell­schaft­li­che Rea­li­tät, die sich all­zu weit von der de­mo­kra­ti­schen Idee ei­ner Ge­mein­schaft von Frei­en und Glei­chen ent­fernt hat, in der es nicht mehr um die ver­nünf­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zung um das ge­mein­sa­me Wohl geht, die be­raubt die De­mo­kra­tie um ihr Po­ten­ti­al. Chris­ten kön­nen sich ak­tiv für Ver­än­de­run­gen en­ga­gie­ren, ohne sich auf po­li­ti­sche Po­la­ri­sie­run­gen und Gra­ben­kämp­fe ein­zu­las­sen, die ge­sun­de Ver­än­de­run­gen nur blo­ckie­ren. Das er­for­dert Weis­heit und Ab­wä­gen. 

SPRE­CHER:
„Denn das Chris­ten­tum ist ein streit­ba­rer Glau­be. Es ist […] über­zeugt da­von, dass mit der Welt, die Gott ge­macht hat, eine Men­ge schief­ge­gan­gen ist und dass Gott dar­auf be­steht, und zwar laut­stark dar­auf be­steht, dass wir sie wie­der in Ord­nung brin­gen.“

AU­TOR:
So brach­te es C.S. Le­wis einst auf den Punkt.
Da­für braucht es Gläu­bi­ge, die in ih­ren Über­zeu­gun­gen ste­hen, de­nen man nicht be­stän­dig ent­ge­gen­wer­fen muss „was steht ihr da und schaut zum Him­mel em­por“, son­dern die er­wach­sen ge­wor­den sind in ih­rem Glau­ben und be­reit sind, Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men. Das heu­ti­ge Fest „Chris­ti Him­mel­fahrt“ er­in­nert dar­an, dass das Ende mei­ner Ge­schich­te be­reits ge­schrie­ben ist: Der Him­mel. Mit die­ser Ge­wiss­heit bleibt nur noch ei­nes zu tun: Ein ent­schie­de­nes En­ga­ge­ment in die­ser Welt.

MU­SIK: 
Cha­sing Sheeps Is Best Left to She­p­herds – Mi­cha­el Ny­man Band – Mi­ch­ale Ny­man – Pe­ter Greena­way Film Mu­sic  


¹ Zi­tiert nach: https://de.wikisource.org/wiki/Der_Struwwelpeter/Die_Geschichte_vom_Hanns_Guck-in-die-Luft (zu­letzt ab­ge­ru­fen 02.03.2023)

² Mar­tin Lu­ther King Jr., „I Have a Dream“ (An­spra­che in Wa­shing­ton, D. C., am 28. Au­gust 1963); deut­sche Über­set­zung zi­tiert nach: https://ewigkite.de/glaubenssachen/38-angedacht/740-i-have-a-dream-text (zu­letzt auf­ge­ru­fen 02.03.2023)

³ Rod Dre­her, „The Germs That De­s­troy­ed an Em­pire“, The Ame­ri­can Con­ser­va­ti­ve, 24. April 2020, www.theamericanconservative.com/dreher/roman-empire-plague-germs-kyle-harper, auf­ge­ru­fen am 13.03.2023.

C.S. Le­wis, Par­don ich bin Christ

C.S. Le­wis, Das Ge­wicht der Herr­lich­keit (Ba­sel und Gie­ßen: Brun­nen Ver­lag, 1. Ta­schen­buch­auf­la­ge 2005), S. 108.

Jo­na­than Ed­wards, „Chris­ti­an Cha­ri­ty or the Duty of Cha­ri­ty to the Poor, Ex­plai­ned and En­forced“, Bi­ble Bul­le­tin Board, www.biblebb.com/files/edwards/charity.htm, auf­ge­ru­fen am 15.03.2023.

C. S. Le­wis, Par­don, ich bin Christ, S. 83.