Von der Lust und Last des Alterns
Autor
Dem Alter haftet ein Makel an. Das ist seit eh und je so und kein Phänomen der jüngeren Zeit. Es gibt schon immer einiges zu klagen über das Alter: Das Leben wird beschwerlich. Der Körper verliert an Vitalität. Die gesellschaftliche Ausgrenzung nimmt zu. Das Alter wird so zum verdrängungswürdigen Lebensabschnitt.
Es ist allerdings ein ganz natürlicher Vorgang, dass wir uns im Laufe des Lebens ständig verändern, dass wir dabei auch körperlich älter, irgendwann vielleicht gebrechlich werden. Der Mensch wird von allein alt. Aber ob sein Altern gelingt, das hängt von ihm ab.
Sprecher
»Wer keine Kraft zu einem sittlich guten und glückseligen Leben in sich selbst trägt, dem ist jedes Lebensalter eine Last; wer aber alles Gute von sich selbst verlangt, dem kann nichts, was das Naturgesetz zwangsläufig mit sich bringt, als ein Übel erscheinen. Dazu gehört in erster Linie das Alter; alle wünschen es zu erreichen; haben sie es dann erreicht, dann beklagen sie sich darüber; so inkonsequent und unlogisch sind sie, die Toren.»¹
Autor
Keinem Geringeren als Marcus Tullius Cicero, dem römischen Philosophen des ersten Jahrhunderts vor Christus, verdanken wir diese Zeilen über die späten Lebensjahre. Kritisch setzt sich der Römer mit den landläufigen Urteilen seiner Zeit über das Greisenalter auseinander. Das lasse zwar die Kraft der Jugend vermissen, hätte dafür aber die vorzüglicheren Geisteskräfte. Auch von einem Mangel an Sinneslust könne keine Rede sein. Mürrisches, zänkisches Wesen und Geiz dürfe man nicht in Abhängigkeit vom Alter sehen, das – so Cicero – sei einzig eine Frage des Charakters.
Und es stimmt ja auch: Manchen gelingt es, ihre eigene Lebendigkeit mit jedem neuen Tag auch immer wieder neu zu spüren. Sie erleben sich als quicklebendig, egal, wie alt sie schon geworden sind. Anderen gelingt das nicht so gut. Kurz gesagt: Es hängt nicht so sehr an der Anzahl von Jahren, es hängt an uns selbst, ob wir am Lebensalter leiden.
Wir könnten unser Leben nehmen, wie es kommt, ohne Wenn und Aber. Ja zum Leben sagen und damit Ja zu sich selbst. Das würde uns von einer Sorge befreien, die sinnlos ist: die Sorge vor dem Alter.
MUSIK Julia Kent – Alianthus (Green and Grey)
Autor
Viele Menschen verschwenden enorm viel Zeit und Energie darauf, den Anschein ewigen Jungseins zu wahren. Damit leben sie ihr Leben rückwärtsgewandt. Es wird zu einem Vermeidungsprojekt herabgesetzt. Sie vermeiden das Alter und werden Nachlassverwalter ihrer Jugend. Das Ziel scheint heute vielfach zu sein, möglichst gesund und faltenfrei das Ende seines Lebens zu erreichen.
Es wird an etwas festgehalten, das seine Zeit hatte. Es kann mühsam werden, gegen die eigene Natur anzukämpfen. Denn: Im Hinterkopf wird jeder ahnen, wenn nicht wissen, dass man diesen Lauf letztlich nicht gewinnen kann. Die Natur setzt sich am Ende durch.
Solange wir uns in den Räumen der Kompensation aufhalten, ist unsere Aufmerksamkeit und Energie auf das Alte gerichtet und wir können nicht dem begegnen, was hier und jetzt in unserem Leben an der Reihe wäre. Durch den Versuch, jung zu bleiben, kann darum ein Mangel an Lebendigkeit entstehen. Und wenn das Alter trotz allem unvermeidlich über einen kommt, flieht man nicht selten in den Rückzug, in die Verbitterung, in die Resignation – in die Depression. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Menschen durch medizinische und hygienische Standards maximal alt werden. Dennoch wird die Jugend derart verherrlicht. In einer Kultur, in der das Alter zunehmend als Belastung gesehen wird, ist die Frage zentral, was es eigentlich ist, dass das Alter wirklich ausmacht.
MUSIK Julia Kent – A Spire (Green and Grey)
Sprecher
»Das Altwerden ist ja nicht bloß ein Abbauen und Hinwelken, es hat, wie jede Lebensstufe, seine eigenen Werte, seinen eigenen Zauber, seine eigene Weisheit, seine eigene Trauer. Und in Zeiten einer einigermaßen blühenden Kultur hat man mit Recht dem Alter eine gewisse Ehrfurcht erwiesen, welche heut von der Jugend in Anspruch genommen wird. Wir wollen das der Jugend nicht weiter übel nehmen. Aber wir wollen uns doch nicht aufschwatzen lassen, das Alter sei nichts wert.«²
Autor
Mit diesen Worten trat der Dichter Hermann Hesse für den besonderen Wert des Alters ein.
Wir sind voll von Bildern und Annahmen, die Maßstäbe setzen. Im Wesentlichen ist unser Altersbild durch Feststellungen von Abbau, Hilfsbedürftigkeit und Vereinsamung geprägt.
Der amerikanische Gerontologe und Psychologe Klaus Werner Schaie kam dagegen bereits Ende der 90er Jahre in einer breit angelegten Studie zu der Erkenntnis, dass das Alter kein relevantes Vorhersagekriterium für die intellektuelle Leistungsfähigkeit ist. Den beobachtbaren Abbau von Leistungsfähigkeit führt er überwiegend auf fehlendes Training und die ausfallende berufliche Aktivität zurück.
Das Problem scheint eher zu sein: Wir wissen nicht, wozu die Alten sinnvoll eingesetzt werden sollen. Altern ist damit zu einer Aufgabe geworden. Es muss neu entworfen werden. Das Problem der Verortung und Selbstverortung der Alten ist für meinen Geschmack ein Emanzipationsproblem. Das, worauf das Selbstwertgefühl sich vordergründig stützte, nimmt mit dem Alter ab oder fällt praktisch ganz weg: Berufsarbeit, Produktivität, Einfluss, Aussehen. Auch Freunde und Bekannte werden uns genommen. Vielleicht kann man das Alter als die Phase des Lebens bezeichnen, in der Verluste nicht mehr ersetzt werden, sondern eine Lücke hinterlassen. Das kann manchmal sehr hart sein.
Je mehr ein Mensch von seiner Arbeit und Leistung gelebt hat, umso schmerzlicher ist dieser Reifungsprozess. Denn eben das müssen wir alle lernen: Der Wert unseres Lebens und die Würde unserer Person sind tiefer verankert als in unserer Leistung und Produktivität.
Das Alter fordert heraus, das Loslassen einzuüben. Unser ganzes Leben ist ein ständiges Loslassen. Wir können schon nicht an unserer Kindheit oder an unserer Jugend festhalten. Um zu wachsen und neu zu werden, müssen wir beständig Altes loslassen. Im Alter wird dieses Loslassen immer deutlicher und oft genug auch schmerzlicher.
Dieses Loslassen sollte nicht kompensiert, sondern trainiert werden. Denn ansonsten wird das Neue, das ins Leben will, verhindert. Jeder Versuch eine Lebenssituation zu konservieren, verhindert den Aufbruch ins Neue.
Lassen wir uns und die Welt, wie sie uns gegenübertritt los, dann sind wir vom Leben getragen und können, wie Hermann Hesse es in seinem berühmten Gedicht »Stufen« so treffend und poetisch ausdrückt, »uns neuen Räumen jung entgegensenden«.
MUSIK Julia Kent – Running by the Roads, Running by the Fields (Library Tapes: Escapism)
Autor
Um die Gefährdung der Erstarrung und des Festhaltens zu überwinden, gibt es zwei wichtige Hilfsmittel bzw. wesentliche Elemente der Reifung.
Da ist zuerst der Humor. Er ist sehr hilfreich, damit man sich selbst relativieren kann, dass man auch mal über sich selbst lachen kann, dass man etwas Spielerisches behält. Das hilft anzunehmen, was angenommen werden muss. Der Humor hilft, zu integrieren. Das ist die Aufgabe: alles annehmen und verarbeiten, was das Leben mir gebracht hat. Und nicht zuletzt: Der Humor beeinflusst und verwandelt auch unser Gottesbild und unsere Gottesbeziehung. Eine englische Nonne aus dem 17. Jahrhundert betet:
Sprecherin
Herr, du weißt es besser als ich selbst, dass ich älter werde und eines Tages alt bin.
Versiegle meine Lippen, was meine Schmerzen und Leiden anbelangt. Sie nehmen zu, und die Lust daran, sie aufzuzählen, wird wohltuender mit den Jahren.
Um soviel Gnade zu bitten, dass ich an den Erzählungen über die Schmerzen anderer Gefallen finden könnte, wage ich nicht; hilf mir jedoch, sie in Geduld zu ertragen.
Schenke mir die Fähigkeit, Gutes zu entdecken an Orten, an denen ich es nicht erwarte, und Begabungen in Menschen, denen ich sie nicht zutraue.
Und gib mir, oh Herr, die Gnade, es ihnen auch zu sagen. Amen.³
Autor
Ein anderes wesentliches Element des Reifens ist gewiss die Dankbarkeit, die den Geschenkcharakter des Lebens würdigt und feiert. Dankbarkeit bedeutet, das Leben mit allem, was sich darin ereignet, nicht als selbstverständlich oder als Zufall hinzunehmen. Dankbarkeit setzt Vertrauen voraus. Einem Menschen gegenüber, dem ich nicht vertraue, kann ich nicht wirklich dankbar sein. Denn immer wieder beschleicht mich dann das unangenehme Gefühl, nie zu wissen, was er oder sie eigentlich vorhat. So muss ich auch dem Leben vertrauen lernen.
In der Dankbarkeit kann ich vollständig annehmen. Dag Hammarskjöld sagte gegen Ende seines relativ kurzen Lebens: „Die Nacht nähert sich. Für alles, was war, Dank! Für alles, was kommt, Ja!‘“ Und Dietrich Bonhoeffer erklärte in einem Gebet am Silvesterabend: „Solange man nicht für alles, was gewesen ist, dankbar sein kann, kann man noch nicht richtig von diesem Jahr Abschied nehmen.“
Man muss dann noch ein bisschen „üben“, ein bisschen schauen, ob man nicht auch den schweren Dingen dieses Jahres, dieses Lebens eine gewisse Dankbarkeit abgewinnen kann. Man wird nie für alles dankbar sein können, aber in allem Grund zur Dankbarkeit finden.
Humor und Dankbarkeit helfen, das Leben in seinen Höhen und Tiefen in sich aufzunehmen und Teil von sich selbst werden zu lassen. Das erzeugt dieses unbändige schöne Funkeln in den Augen von Menschen, die Ja zum Leben sagen und damit Ja zu sich selbst.
MUSIK Julia Kent – A Summer by the Sea II (Library Tapes: Escapism)
Autor
Sich die Offenheit für das Leben zu bewahren, geht einher mit der Fähigkeit zur Begegnung – mit anderen Menschen und dem Leben selbst. Damit gehen wir einen Prozess ein, der nie abgeschlossen ist und eine Reife verspricht, die kein Alter kennt. Begegnung ist unser Lebenselixier schlechthin.
Beziehungen sind für uns lebenswichtig, weil wir ansonsten unser Lebensmittel nicht bekommen. Jeder weiß, dass er ohne soziale Unterstützung nicht auskommt.
Wir brauchen das Berührt-Werden, damit wir unsere Leiblichkeit erfahren können. Wir brauchen die Bestätigung der Welt, um einen Selbstwert entwickeln zu können.
Ohne Begegnung lauert die Einsamkeit. Sie ist das Empfinden, dass niemand zu einem gehört. Es ist ein höchst bedrohlicher Zustand, der existentielle Angst auslöst und an den man sich nicht gewöhnen kann. Die quälende Frage: »Ist da jemand?« hallt in uns und wir brauchen eine Antwort. Wenige werden behaupten können, das noch nie erlebt zu haben.
Begegnung ist das, was uns Leben spendet. Daher ist es das Wertvollste in unserem Leben.
Nur wenn wir zur unmittelbaren Begegnungsfähigkeit zurückfinden, können wir unsere Lebendigkeit erhalten. Dafür müssen wir uns zur Disposition stellen und Wege suchen, unsere inneren Mauern abzubauen. Alles, was uns dabei stört ins Leben aufzubrechen, muss weggeräumt werden. Begegne der Welt voll Erwartung, Interesse und Sehnsucht und bleibe berührbar. Diese Haltung ist bis ins hohe Alter möglich und erhält uns jung. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an das Wort Jesu: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“
Interessanterweise beschließen Menschen manchmal, dass sie fertig sind. Sie lassen sich nicht mehr auf die Welt ein und leben starr ein Leben, das darauf abzielt, das eigene Weltbild zu bestätigen. Es ist der Zeitpunkt, an dem ein Mensch zu sich selbst sagt, dass er sich und die Welt kennt. Diese Annahme ist deshalb so absurd, weil sie einer Unveränderbarkeit der eigenen Person und der Welt voraussetzt. Stetige Wandlung dagegen widersteht dem Alter und ist mit dem Alter nicht unter einen Hut zu bringen.
Das letzte Wort in dieser Angelegenheit möchte ich nochmals dem Staatsmann und Philosophen Cicero geben:
Sprecher
„Das Greisenalter ist, wie bei einem Schauspiel, des Lebens letzter Akt. Hier erschöpft auf der Strecke zu bleiben, hier schlappzumachen, sollten wir vermeiden, und dies besonders, wenn dieser Schlussakt sich mit Zufriedenheit verbindet.“⁴
MUSIK Julia Kent – A Summer by the Sea I (Library Tapes: Escapism)
¹ M. Tulli Ciceronis, Cato maior de senectute / Marcus Tullius Cicero, Cato der Ältere – Über das Alter, Lateinisch-deutsch, ed. Max Faltner, Heimeran, München 21980, S.11.
² zitiert nach: http://www.schmidth.de/Weisheit/hesse.htm – 08.08.2023
³ zitiert nach: https://www.deutschelyrik.de/gebet-des-aelter-werdenden-menschen.html – 12.08.2023
⁴ Cicero, 106.