Vom Um­gang mit der Schuld

Vom Um­gang mit der Schuld

Drei Kreu­ze stehn auf Gol­ga­tha. An ih­nen hängt, dem Tod ge­weiht, was le­ben woll­te. Macht und Ge­walt be­en­den die­ses Le­ben. Sie woll­ten es nicht dul­den. Und was sie stört, wird kur­zer­hand be­sei­tigt, mund­tot ge­macht. Wird weg­ge­sperrt, er­le­digt. Wer mäch­tig ist, be­stimmt auch über gut und richtig.

Drei Kreu­ze stehn auf Gol­ga­tha, und Gol­ga­tha hat vie­le Na­men. Hieß Kreuz­zug etwa oder In­qui­si­ti­on, heißt auch KZ und Gu­lag, Gu­an­ta­na­mo. Wo Herr­schaft Mei­nung un­ter­drückt und Waf­fen Frei­heit, und wo Ge­hor­sam hö­her gilt als eig­nes Den­ken, da lie­gen Schä­del auf­ge­häuft zum Hü­gel für drei Kreuze.

An ih­nen stirbt, was Le­ben loh­nend macht und Mensch­sein mensch­lich. Es ster­ben Glau­be, Hoff­nung, Lie­be, die­se drei, und ohne sie herrscht to­des­kal­ter Eis­hauch. Dann ist die Erde starr von Schre­cken und Ge­walt, Schmerz und Ge­schrei, und kei­ner mehr, die Star­re aufzulösen.

Drei Kreu­ze stehn auf Golgatha.

Drei Kreu­ze stehn auf Golgatha.
Und bald will Os­tern wer­den.¹

Pfar­rer Paul Klu­ge ver­fass­te die­se Zei­len für den Kar­frei­tag. Der Tag, an dem Chris­ten welt­weit des To­des Jesu Chris­ti ge­den­ken, hin­ge­rich­tet am Kreuz auf dem Berg Gol­ga­tha in Jerusalem.
Gol­ga­tha hat vie­le Na­men, schreibt Paul Klu­ge und macht da­mit auf be­we­gen­de Art deut­lich: An je­dem ein­zel­nen Tag ist ir­gend­wo auf die­ser Welt Kar­frei­tag. Ein Un­schul­di­ger stirbt, ein Un­be­que­mer wird zum Schwei­gen ge­bracht, ein Kind ver­hun­gert, ein Freund wird ver­ra­ten. Ihr Leid ist nicht zu un­ter­schei­den vom Lei­den Jesu. Sie re­pro­du­zie­ren den Hor­ror, der in der ge­schun­de­nen Lei­che am Kreuz sicht­bar wird. Die Kreu­zes­stra­fe ist kon­kre­ter Aus­druck der im Men­schen schlum­mern­den Un­mensch­lich­keit. Sie ist eine Ma­ni­fes­ta­ti­on des Bö­sen. Die­se Hin­rich­tungs­form of­fen­bart die Dä­mo­nie mensch­li­cher Grau­sam­keit und Bes­tia­li­tät. Die Kreu­zi­gung ist heu­te wei­test­ge­hend ein Re­likt aus al­ter Zeit. In der Ge­gen­wart rühmt man sich schließ­lich der Hu­ma­ni­tät und des Fort­schritts. Zu­gleich aber neh­men die An­wen­dung der To­des­stra­fe, die Fol­ter und der Ter­ror eher zu als ab. Da­her hat man wohl kein Recht, die­sen an­ti­ken Wi­der­spruch als über­wun­den zu be­trach­ten. Ende 2022 be­fan­den sich welt­weit min­des­tens 28 282 Per­so­nen im To­des­trakt – Ten­denz stei­gend.²
So wie der Mensch nach christ­lich-jü­di­scher Über­zeu­gung Eben­bild Got­tes ist, so sind die lei­den­den Men­schen Eben­bil­der des an­ge­na­gel­ten und durch­bohr­ten Got­tes am Kreuz. Sie las­sen Gott er­ken­nen, weil sie ihn ver­ge­gen­wär­ti­gen. Die Lei­den­den und Op­fer die­ser Welt sind Orte der Got­tes­er­kennt­nis. Der Theo­lo­ge Gis­bert Greshake stellt in sei­nem Buch „War­um lässt uns Got­tes Lie­be lei­den“ ein­drück­lich dar, dass Je­sus mit ei­nem Schrei in sei­nen Tod ging, der nach­hallt als Got­tes Mit­lei­den mit un­se­rer Aus­weg­lo­sig­keit, mit der Dumpf­heit und Sinn­lo­sig­keit von Leid, Ohn­macht und Qual, die das Le­ben un­er­träg­lich ma­chen kön­nen. Auf die Fra­ge, wo ist Gott in all dem, lau­tet die Ant­wort von Greshake: Ge­nau dort ist er!

„Gott selbst ist in sei­nem Sohn in die dunk­len Ab­grün­de der Mensch­heit ein­ge­gan­gen und hat sie auf sich ge­nom­men. […] Gott lei­det mit dem Lei­den­den und in den Lei­den­den wei­ter, um mit ih­nen zu sein […]. Von die­ser Glau­bens­über­zeu­gung her ha­ben un­zäh­li­ge Men­schen die Kraft ge­fun­den, mit ih­ren Be­gren­zun­gen und Lei­den zu le­ben – und zu hof­fen.“³

Es gibt Orte, an de­nen das ent­setz­li­che Lei­dens­aus­maß die­ser Welt un­über­seh­bar ist. Und die­se Orte sind An­lass da­für, nach mensch­li­cher Schuld und Ver­ant­wor­tung zu fra­gen. Sie müs­sen ernst ge­nom­men wer­den und kön­nen nicht im Sin­ne ei­ner leicht da­hin­ge­wor­fe­nen Er­klä­rung oder gar Ent­schul­di­gung ver­harm­lost wer­den. Der Ernst mensch­li­chen Le­bens liegt in der Nut­zung sei­ner Frei­heit, für die der Mensch Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men hat. Schließ­lich be­sitzt er das Po­ten­ti­al an­de­ren den Him­mel auf Er­den zu be­rei­ten, oder ih­nen das Le­ben zur Höl­le zu machen.
Ei­ner die­ser Orte bleibt für mich die ja­pa­ni­sche Stadt Na­ga­sa­ki. Im Au­gust 1945 wirft Ma­jor Charles Sweeny die Atom­bom­be über dem Ort ab. 1995 wur­de er in ei­nem In­ter­view von Gün­ter Jauch ge­fragt, was seit die­sem Tag im Ver­lauf der letz­ten 50 Jah­re in ihm vor­ge­gan­gen sei. Der hoch de­ko­rier­te Ve­te­ran ant­wor­te­te, dass je­der Sol­dat in je­der Ar­mee der Welt das­sel­be ge­tan hät­te, ganz ein­fach, weil es be­foh­len war. Er tat also nur sei­ne Pflicht als Sol­dat. Nicht sei­ne Schuld.
Durch den Atom­bom­ben­ab­wurf ver­ant­wor­tet Ma­jor Sweeny zu­sam­men mit dem Pi­lo­ten des Hi­ro­shi­ma-Flie­gers drei Tage zu­vor per­sön­lich die meis­ten un­mit­tel­ba­ren To­des­op­fer in der Ge­schich­te der Mensch­heit. Etwa 100.000 in we­ni­gen Se­kun­den, vie­le Zehn­tau­sen­de im Ver­lauf der nächs­ten Wo­chen, Jah­re und Jahr­zehn­te, dar­un­ter un­zäh­li­ge Kinder.

MU­SIK: Ti­tel: Equin­ox: I. – Al­bum: So­lace – Ar­tist: Oliver

Je­der be­geht Feh­ler und lädt Schuld auf sich. Es ist im­mer ein Ge­ben und Neh­men in die­sem Le­ben: Man wird schul­dig an uns und wir wer­den schul­dig an an­de­ren. Die Di­men­sio­nen und die Trag­wei­te mö­gen in­des sehr un­ter­schied­lich ausfallen.
Über ei­ge­ne Ver­feh­lun­gen spre­chen – das aber geht gar nicht. Nichts ist so in­tim wie die ei­ge­ne Schuld. Die Ab­wehr­ag­gres­si­on bei dem The­ma ist spür­bar. Die pein­li­chen Ver­ren­kun­gen, um of­fen­sicht­li­che Fehl­ver­hal­ten zu leug­nen, sind be­mer­kens­wert. Schuld wird kur­zer­hand weg­er­klärt und Feh­ler nicht­an­we­sen­den Drit­ten in die Schu­he ge­scho­ben. Al­les ge­treu dem Mot­to »Der Zweck hei­ligt die Mit­tel«. Und der Zweck ist die ei­ge­ne Be­find­lich­keit, das ei­ge­ne Be­dürf­nis, die ei­ge­ne Be­frie­di­gung. Die ei­ge­ne Schuld und die ei­ge­ne Ver­ant­wor­tung kön­nen durch­aus in ei­nem Grad weg­ge­blen­det und ver­drängt wer­den, dass ei­nem un­be­tei­lig­ten Zu­schau­er schwind­lig wird. Vie­le Men­schen tun sich heu­te schwer, Ver­ant­wor­tung für ihre Ta­ten zu über­neh­men und grei­fen zu ent­las­ten­den Erklärungsmustern.

War­um sich der Mensch mit sei­ner Schuld schwer­tut, ist schnell er­klärt. Schuld ist schmerz­haft. Bes­ser ge­sagt: un­ver­dräng­te Schuld ist schmerz­haft. Sie er­in­nert den Men­schen dar­an, dass sei­ne Hand­lun­gen nicht sei­nen ei­ge­nen ed­len und vor­zeig­ba­ren Prin­zi­pi­en ent­spre­chen. Schuld ist be­ängs­ti­gend, zeigt sie doch, dass wir uns nie­mals ganz im Griff ha­ben wer­den. Da­her ver­drängt man sie so ger­ne ins Unbewusste.
Au­ßer­dem le­ben wir zu­neh­mend in ei­ner per­fek­tio­nis­ti­schen Ge­sell­schaft – mit Null­to­le­ranz ge­gen Feh­ler. Das macht das Le­ben nicht nur trist, son­dern setzt un­ter Druck. Ich bin ge­ra­de­zu ge­nö­tigt, mir ein ge­schön­tes Bild mei­ner selbst zu­recht­zu­le­gen. Dann kränkt es mich umso mehr, wenn ich mit der Rea­li­tät kon­fron­tiert werde.
Ein pro­ba­tes Mit­tel die ent­lar­ven­de Rea­li­tät ab­zu­mil­dern, ist der Selbst­be­trug. Schlech­tes Ver­hal­ten wird ge­schwind in »gut« um­eti­ket­tiert. Man sagt nicht „Ich bin ego­is­tisch“, son­dern: „Ich habe ei­nen star­ken Wil­len und gehe kon­se­quent mei­nen Weg.“ Men­schen ma­chen aus ih­rer Schlech­tig­keit eine Tugend.
Oder, die an­de­ren sind schuld. Das macht mich zum Op­fer und es soll nur je­mand ver­su­chen, an mei­nem Op­fer­sta­tus zu rüt­teln. Was mir Gott, Welt, Gene, El­tern, Leh­rer und Vor­ge­setz­te an­ta­ten, wiegt so schwer, dass der blo­ße Hin­weis, et­was da­ge­gen zu set­zen, schon eine Be­lei­di­gung ist. Da­mit ich mich rich­tig wohl füh­len kann, muss ein Sün­den­bock her.

MU­SIK: Ti­tel: Ba­ra­jas – Al­bum: De­lay – Ar­tist: Ju­lia Kent

So kann Schuld­haf­tes ver­drängt wer­den. Das hilft aber nicht und macht nicht glück­lich. Viel­mehr lenkt es in Sack­gas­sen, wo ich selbst nichts mehr än­dern kann. Ich iso­lie­re mich von mei­nen Mit­men­schen und es kommt zur trau­ri­gen in­ne­ren Ver­ein­sa­mung. In den »Auf­zeich­nun­gen aus ei­nem Kel­ler­loch« schreibt der rus­si­sche Au­tor Dostojewski:

»Je­der Mensch hat Er­in­ne­run­gen, die er nicht je­dem er­zäh­len wür­de, son­dern nur sei­nen Freunden.
An­de­res, was er im Sinn trägt, wür­de er noch nicht ein­mal sei­nen Freun­den er­zäh­len, son­dern nur sich selbst, und das heimlich.
Aber dann gibt es noch an­de­re Din­ge, die so­gar sich selbst zu er­zäh­len er Angst hät­te, und je­der an­stän­di­ge Mensch hat eine Rei­he sol­cher Din­ge tief in sei­nem Geist vergraben.«

Dass die­ser Drei­schritt be­son­ders für das The­ma Schuld zu­trifft, wird nie­mand ernst­haft in Fra­ge stel­len wol­len. Ich muss mich ak­tiv be­mü­hen, will ich er­ken­nen, wie ich in Wirk­lich­keit bin, will ich mei­ne Feh­ler, mein Ver­sa­gen, mei­ne Schuld in den Blick be­kom­men. Es braucht die Be­reit­schaft, ei­nen ehr­li­chen Blick in den Spie­gel zu wa­gen. Das fällt schwer, be­steht doch zu­recht die Angst, dass der Spie­gel nicht das Bild zeigt, das wir ger­ne von uns se­hen würden.
Der iri­sche Schrift­stel­ler Os­car Wil­de schil­dert das sehr an­schau­lich in sei­nem Ro­man „Das Bild­nis des Do­ri­an Gray“. Do­ri­an ist ein bild­schö­ner Jüng­ling – be­gehrt, be­wun­dert und be­nei­det. Der Ma­ler Ba­sil Hall­ward ge­hört zum Kreis der in­ni­gen Ver­eh­rer. Er ist so an­ge­tan vom Äu­ße­ren des jun­gen Man­nes, dass er ein Por­trait von ihm anfertigt.
Do­ri­an wird im Lau­fe sei­nes Le­bens im­mer rück­sichts­lo­ser. Er be­nutzt die Men­schen und geht über ihr Schick­sal hin­weg. Er lebt skru­pel­los sei­ne Selbst­ent­fal­tung aus und ent­wi­ckelt sich zum skan­dal­um­wit­ter­ten Mit­tel­punkt der Ge­sell­schaft. Nun zeigt sich die ma­gi­sche Ei­gen­schaft sei­nes Por­traits: Do­ri­an bleibt all die Jah­re jung und schön, wäh­rend sich das Por­trait ver­än­dert. Es zeigt im­mer mehr die Züge sei­ner Verschlagenheit.

„Das vi­brie­ren­de, strah­len­de Son­nen­licht zeig­te ihm die Li­ni­en der Grau­sam­keit um den Mund so deut­lich, als ob er, nach­dem er et­was Furcht­ba­res ge­tan, in den Spie­gel ge­se­hen hät­te. (…) Er stand vom Stuhl auf und schob ei­nen gro­ßen Wand­schirm vor das Por­trät. Es schau­der­te ihn, als er dar­auf blick­te. (…) Das Por­trät, das Ba­sil Hall­ward ge­macht hat­te, soll­te ihm ein Füh­rer durchs Le­ben sein, soll­te ihm sein, was ei­ni­gen die Hei­lig­keit, an­dern das Ge­wis­sen und uns al­len die Got­tes­furcht ist. Es gab Schlaf­mit­tel für Ge­wis­sens­bis­se, Arz­nei­en, die das mo­ra­li­sche Emp­fin­den in Schlaf lul­len konn­ten. Aber hier war ein sicht­ba­res Sym­bol der Er­nied­ri­gung durch die Sün­de. Hier war ein ewig ge­gen­wär­ti­ges Ab­bild des Ver­der­bens, das die Men­schen über ihre See­le brin­gen. (…) Ewi­ge Ju­gend, un­end­li­che Glu­ten, fei­ne und ge­hei­me Ge­nüs­se, wil­de Freu­den und wil­de­re Sün­den – all das soll­te er ha­ben. Das Bild soll­te die Last sei­ner Schan­de tra­gen: Das war al­les.“

Do­ri­an ist ent­setzt dar­über, wie sich die Ge­sichts­zü­ge auf sei­nem Bild im­mer mehr ver­zer­ren. Ir­gend­wann ver­steckt er das Bild in sei­nem Kin­der­zim­mer, ver­birgt es vor den an­de­ren und sich selbst. Das Por­trait ist zum Spie­gel sei­ner See­le geworden.

MU­SIK: Ti­tel: 2 Pie­ces for 4 Brot­hers: I.Flow – Al­bum: Air – Ar­tist: Oli­ver Davis

So wie das Por­trait Do­ri­an zum Spie­gel wird, hat Mar­tin Lu­ther das Lei­den Jesu ei­nen „Erns­ten Spie­gel Chris­tus“ ge­nannt – ei­nen Spie­gel, in dem wir uns er­ken­nen können.
Ich er­ken­ne in Pi­la­tus, der Je­sus zum Tod ver­ur­teilt, das Kal­kül, das für ei­nen wirt­schaft­li­chen oder po­li­ti­schen Vor­teil auch über Men­schen­rech­te hinweggeht.
Ich er­ken­ne in der auf­ge­brach­ten Men­ge Je­ru­sa­lems, die Jesu Tod for­dert, un­se­re von man­chen Me­di­en an­ge­sta­chel­te und ge­spal­te­ne Gesellschaft.
Ich er­ken­ne in den Sol­da­ten, die Je­sus ver­spot­ten und drang­sa­lie­ren, die Nei­gung, Ver­ant­wor­tung weg­zu­schie­ben und so dem Un­recht Raum zu geben.
Ich er­ken­ne im wie­der­hol­ten Ver­sa­gen des Pe­trus, sich in der Be­dräng­nis zu Je­sus zu be­ken­nen, wie zag­haft und mut­los ich manch­mal für mei­ne Über­zeu­gun­gen eintrete.
Sie alle sind schul­dig geworden:
Pi­la­tus, der aus macht­po­li­ti­schem In­ter­es­se die­se Hin­rich­tung an­ord­net. Die Men­ge, die ei­nen Sün­den­bock sucht, um sich ab­zu­re­agie­ren. Die Sol­da­ten, die den Spiel­raum ei­nes Be­fehls auf grau­sa­me Wei­se nut­zen. Die Jün­ger, die bei der ers­ten Be­las­tungs­pro­be der Mut verlässt.

Wie das Bild­nis des Do­ri­an Gray macht auch das Kreuz Jesu öf­fent­lich, was wir nur all­zu ger­ne ver­drän­gen und ver­ste­cken. Wir zei­gen lie­ber ein schö­nes, ma­kel­lo­ses Bild von uns selbst. Ei­nes, das wir für re­prä­sen­ta­bel hal­ten und das zeigt, wie wir ger­ne wahr­ge­nom­men wer­den wol­len von anderen.
Aber im ge­schla­ge­nen Ge­sicht Jesu, in der ge­schun­de­nen Lei­che am Kreuz se­hen wir die töd­li­chen Fol­gen un­se­rer mensch­li­chen Gleich­gül­tig­keit, Selbst­be­zo­gen­heit und Macht­ver­führ­bar­keit. Das Kreuz legt die zer­stö­re­ri­schen und lieb­lo­sen Züge un­se­res We­sens offen.

Im Fort­gang des Ro­mans ver­zwei­felt Do­ri­an am An­blick sei­nes ma­gi­schen See­len­bil­des. Ir­gend­wann hält er es nicht mehr aus. Er sticht mit ei­nem Mes­ser in das Bild hin­ein. In die­sem Au­gen­blick ver­wan­delt sich der im­mer noch jun­ge und schö­ne Do­ri­an in ei­nen al­ten, von sei­ner Schuld zer­fres­se­nen Mann, und stirbt. Eine tra­gi­sche Geschichte.

MU­SIK: Ti­tel: A Spar­row Ali­gh­ted upon Our Should­er – Al­bum: Or­phée ´- Ar­tist: Jóhann Jóhannsson

Auch der Kar­frei­tag hät­te das Ende ei­ner tra­gi­schen Ge­schich­te sein kön­nen. Aber er wur­de zum good fri­day – zum gu­ten Frei­tag – wie die an­gel­säch­si­schen Chris­ten sa­gen. Sie ha­ben die­sen Tag so ge­nannt, weil sie er­kann­ten: Gott will uns nicht bre­chen, wenn er uns die­sen erns­ten Spie­gel Chris­tus hin­hält, er will uns heilen.
Ich er­ken­ne im Kreuz mei­ne dunk­len Züge. Aber ich er­ken­ne noch viel mehr: Je­sus er­lei­det die Kon­se­quen­zen mensch­li­cher Schuld. Er setzt sich dem Hass der Leu­te aus. Er wird gedemütigt.
Er wird ans Kreuz ge­schla­gen. Den­noch ruft er sei­nen Mör­dern und Fol­te­rern am Kreuz zu: „Va­ter ver­gib ih­nen, denn sie wis­sen nicht, was sie tun.“
Aus dem ge­schla­ge­nen Ge­sicht Jesu trifft uns ein Blick, der um uns weiß und ver­gibt. Je­sus am Kreuz spie­gelt die Lie­be Got­tes zu uns Menschen.
Im Spie­gel die­ser Lie­be kann ich mir ins Ge­sicht se­hen, weil ich weiß: Gott will mich nicht hin­rich­ten mit sei­nem Blick, son­dern auf­rich­ten. Gott sieht den Men­schen in sei­ner Wür­de und Schön­heit trotz und in all den Ta­ten, mit de­nen er sich selbst ent­stellt. So kann ich mich an­schau­en, wie ich bin ohne Il­lu­sio­nen, aber auch ohne Selbst­hass. Ich kann mich mit mir an­freun­den und den Mut fin­den, neu zu beginnen.

Das setzt ein Be­wusst­sein vor­aus, dass ich selbst feh­ler­an­fäl­lig bin. Denn üb­li­cher­wei­se habe ich Schuld­ge­füh­le, weil ich schul­dig ge­wor­den bin, weil ich mich für das Schlech­te ent­schie­den habe, ob­wohl ich das Gute hät­te tun kön­nen. Es mel­det sich mein Ge­wis­sen, eine In­stanz, die ei­nem je­den Men­schen zu ei­gen ist. Wir ha­ben eine gute Vor­stel­lung von dem, was Böse ist. Schließ­lich schrei­en wir auf, wenn uns selbst Un­recht wi­der­fährt. Die Ein­sicht in die ei­ge­ne Feh­ler­haf­tig­keit hilft da­bei, auch an­de­ren leich­ter Feh­ler zu­zu­ge­ste­hen. Es hilft, er­lit­te­nes Un­recht zu ver­zei­hen. Das be­deu­tet um­ge­kehrt: Je feh­ler- und ma­kel­lo­ser mein Bild von mir ist, des­to schwe­rer tue ich mir mit dem Ver­zei­hen. Spre­chen Sie die Zau­ber­wor­te: ›Es tut mir leid‹, ›Ich bit­te dich um Ent­schul­di­gung‹, ›Ver­zeih mir‹. Wie vie­le Men­schen, de­nen Un­recht wi­der­fuhr, seh­nen sich nur nach die­sen ehr­lich ge­mein­ten Worten!
Der Neu­ro­wis­sen­schaft­ler und Psych­ia­ter Ra­pha­el Bo­nel­li weist dar­auf hin, dass wir durch Selbst­er­kennt­nis und den frei­en Wil­len be­stän­dig an un­se­rem Ver­hal­ten ar­bei­ten kön­nen. Das End­ergeb­nis ist un­ser Cha­rak­ter. Der Wil­le des Men­schen ist eben kei­ne Au­to­ma­tik, son­dern ent­wi­ckelt sich durch Ler­nen, ei­ge­ne In­itia­ti­ve und Be­sin­nung auf sich selbst. Da­durch wird dem Men­schen eine ver­nünf­ti­ge Selbst­füh­rung ermöglicht.
Wir sind auch heu­te nicht au­to­ma­tisch ent­schul­digt, nur weil eine wis­sen­schaft­li­che Er­klä­rung für un­ser Ver­hal­ten vor­liegt. Wir mö­gen durch Gene und Um­welt in ge­wis­ser Wei­se fest­ge­legt sein, aber was man dar­aus macht, das ist die Ent­schei­dung je­des Ein­zel­nen. Wir Men­schen be­sit­zen im­mer noch die Macht des „Trotz­dem“, was ein Aus­druck un­se­rer Frei­heit ist. Wer die Schuld für sei­ne schlech­ten Ta­ten nicht an­er­ken­nen will, kann auch die gu­ten nicht für sich reklamieren.

MU­SIK: Ti­tel: 2 Pie­ces for 4 Brot­hers: III. Wind of Ch­an­ge – Al­bum: Air – Ar­tist: Oli­ver Davis

Wer sich dem Gott am Kreuz wirk­lich stellt, kann nicht mehr sa­gen „Nicht mei­ne Schuld“. Viel­mehr wird er das Kreuz der Ver­ant­wor­tung auf sich neh­men und für die Ge­kreu­zig­ten der Ge­gen­wart hand­fest ein­set­zen. Es geht um die Schön­heit der mensch­li­chen Frei­heit, die wir trotz un­se­rer Schwä­che ha­ben. Es geht um die Ver­ant­wor­tung, die wir für un­ser Han­deln tra­gen und um die über­wäl­ti­gen­de Mög­lich­keit, un­se­re Feh­ler ein­zu­ge­ste­hen und wie­der­gut­zu­ma­chen. Die Schuld­an­nah­me be­wirkt ei­nen Frei­heits­ge­winn und ist ein krea­ti­ves Po­ten­zi­al: Es für denk­bar und mög­lich zu hal­ten, falsch agiert zu ha­ben, öff­net neue Hand­lungs­ho­ri­zon­te, lässt uns zu ech­ten Men­schen und gu­ten Vor­bil­dern werden.


¹ Pfr. Paul Klu­ge, April 2012 – zi­tiert nach: https://www.reformiert-info.de/Drei_Kreuze_stehn_auf_Golgatha-8830–0‑84–9.html. Zu­letzt auf­ge­ru­fen: 20.01.2023.

² https://www.acat.ch/de/informationen/themen/todesstrafe/. Zu­letzt ab­ge­ru­fen: 10.01.2023.

³ GRESHAKE, G., War­um lässt uns Got­tes Lie­be lei­den?, Her­der, Frei­burg 2007.

WIL­DE, O., Das Bild­nis des Do­ri­an Gray, ma­rix­ver­lag Kind­le-Ver­si­on, Wies­ba­den 2011, Pos. 1477ff.