„Niemand hat mir je gesagt, dass Gefühl der Trauer so sehr dem Gefühl der Angst gleicht. Das gleiche Flattern im Magen, die gleiche Unrast. Ich muss die ganze Zeit schlucken. Zu andern Zeiten habe ich das Gefühl, leichter Benommenheit. Zwischen mir und der Welt steht eine unsichtbare Wand.“¹
Diese eindrücklichen Zeilen stammen vom irischen Schriftsteller C.S. Lewis. Er verfasste sie nach dem Tod seiner Frau. Trauer ist vielleicht die Emotion, vor der sich der Mensch am meisten fürchtet; denn Dunkelheit und emotionale Leere sind häufig ihre unliebsamen Begleiter. Es ist darum wenig überraschend, dass laut einer Studie des FriedWald-Instituts viele Menschen in Deutschland dazu neigen, ihre Gefühle zu verdrängen oder herunterzuspielen, anstatt sie auszudrücken.²
Als Gesellschaft haben wir die Trauer zu etwas gemacht, das geheilt oder überwunden werden muss. Dabei ist Trauer selbst ein Weg zurück ins Leben und zu neuer Nähe zum Verstorbenen.
Während Tod und Trauer in den Medien allgegenwärtig sind, fehlt im realen Leben oft eine gesellschaftlich akzeptierte Form, der Trauer Ausdruck zu verleihen. Die Mitmenschen ertragen Trauernde oft nicht gut. Schließlich erinnern sie daran, dass kein Leben vor Verlusterfahrungen gefeit ist.
Während nach der Beerdigung das Leben wie gewohnt weiter geht, bleibt der Trauernde in unserer Kultur allein zurück. Er geht auf die Suche nach einem sicheren Ort für seine Trauer und die innere Beziehung zum Verstorbenen. Gleichzeitig muss er sich wieder auf die äußere Welt von Arbeit und Verpflichtungen einlassen. In solch einem Umfeld ist es eine gewaltige Herausforderung, unsere Trauer – die gebrochenen Herzen und zerstörten Lebenspläne – als Teil des eigenen Lebens anzuerkennen und zu schützen.
Doch eines ist klar: Das Thema wird für jeden von uns relevant werden und spätestens dann, brauchen wir Wege, uns der Aufgabe der Trauer zu stellen.
MUSIK: Sakura – Helen Jane Long: Disconnect
Trauer geht immer mit einem Verlustgefühl einher. Sie macht immer neu – bis tief ins Körperliche hinein – schmerzlich bewusst, dass jemand unwiderruflich gegangen ist und körperlich nicht mehr da ist. Dazu kommen Verluste, die schwieriger zu benennen und beschreiben sind: Der Verlust von Normalität, persönlichen Sicherheiten und Überzeugungen, sowie dem, was hätte sein können. C.S. Lewis vergleicht diesen Zustand mit jemandem, der sein Bein verloren hat:
„Er wird wahrscheinlich sein ganzes Leben lang wiederkehrende Schmerzen im Stumpf haben, vielleicht sogar ziemlich starke; und er wird immer ein Einbeiniger sein. Es wird kaum einen Moment geben, in dem er es vergisst. Baden, Anziehen, Hinsetzen und Aufstehen, sogar im Bett liegen, wird alles anders sein. Seine gesamte Lebensweise wird sich ändern. Alle Arten von Vergnügen und Aktivitäten, die er einst für selbstverständlich hielt, müssen einfach gestrichen werden. Auch Pflichten. Im Moment lerne ich, auf Krücken herumzulaufen. Vielleicht bekomme ich bald ein Holzbein. Aber ich werde nie wieder ein Zweibeiner sein.“³
MUSIK: Invisible – Helen Jane Long: Disconnect
Die emotionalen Aufwallungen der Trauer zuzulassen, ist nötig – heilsam nötig. Selbst wenn das bedeutet, dass uns die verwirrenden Gefühlswechsel manchmal überfordern: Angst, Wut, Freude und Melancholie. Auch die Bibel weiß davon und schafft Raum für Trauer. Sie wird weder verdrängt noch verurteilt, sondern ernst genommen. Sie wird als notwendiger Teil des menschlichen Lebens und des Glaubensweges anerkannt. So spricht der Betende im Buch der Psalmen eindrücklich:
»Ich bin erschöpft vom Seufzen. Ach, jede Nacht im Bett weine ich, bis die Kissen durchnässt und meine Augen ganz verquollen sind. Doch Gott hat meine Tränen gesehen! (…) Gott ist denen nahe, die zerbrochenen Herzens sind, und rettet diejenigen, die alle Hoffnung verloren haben.“⁴
Die Bibel unterstreicht die Notwendigkeit, Trauer auszudrücken. Leidvolle Emotionen, die unterdrückt werden, können dazu führen, dass Menschen nicht nur sich selbst zusätzliches Leid verursachen. Statt ihre Verletzung zu fühlen, handeln sie aus ihrer Verletzung heraus. Statt sich ihren Schmerz einzugestehen, fügen sie anderen Schmerzen zu. Immer noch brauchen viele Menschen in unserer Gesellschaft die Erlaubnis und die Ermutigung, sich auf ihre schmerzlichen Gefühle einzulassen; ihre Trauer als etwas Wichtiges anzunehmen und sie in all ihren Formen zu leben: im Weinen, im Schreien, im Seufzen, in traurigen Gedanken, im Rückzug oder wie auch immer sich ihr Schmerz zeigen mag. Die Trauer kann man nicht überspringen.
MUSIK: Get By – Helen Jane Long: Disconnect
Trauer ist mehr als ein Ausdruck von Schmerz. Sie ist das Ringen der Seele darum, mit dem Verstorbenen in Verbindung zu bleiben. Es ist eine verwirrende Erfahrung: Mit dem Tod rückt ein geliebter Mensch äußerlich in die Ferne, und doch kommt er innerlich fast erdrückend nah, beispielsweise durch die Flut an Erinnerungen. Was nach außen wie ein Ende wirkt, vertieft nach innen die Bindung – bis zur Unerträglichkeit. Doch darin liegt zugleich Trost: Inmitten des Schmerzes entsteht eine neue Art von Beziehung, die den Verstorbenen als inneres Gegenüber bewahrt.
Untrennbar mit dieser Erfahrung verbunden ist die Sehnsucht. Sie entspringt der Leerstelle, die der Verlust hinterlässt. Sehnsucht hält fest an dem, was nicht mehr greifbar ist. Wir möchten das vertraute Gesicht berühren, die Hand halten. Die Sehnsucht danach ist körperlich so präsent und stark, dass wir die Berührung fühlen können. Diese Eindrücke sind keine Täuschung, sondern Ausdruck der paradoxen Kraft der Sehnsucht: Sie weiß sehr wohl, dass der Verstorbene nicht mehr da ist. Doch im Sehnen ist er dem Hinterbliebenen intensiv nahe.
Es zeigt sich: Loslassen und Abschiednehmen sind nur ein Teil des Trauerns – aber nicht alles! Es bedeutet vielmehr, einen anderen Modus der Nähe zu entdecken – schmerzhaft, ja, aber auch heilsam und voller Tiefe.
MUSIK: Stillness – Helen Jane Long: Disconnect
Erinnerungen sind wohl die unmittelbarste Art, einem geliebten Menschen wieder nahe zu sein. Sie kommen ungefragt – mitten in der Nacht im Traum oder am Tag beim Gang durch die Stadt. Manchmal sind es Bilder, manchmal nur eine Stimmung. Doch immer tragen sie etwas von der gemeinsamen Geschichte in sich.
Bestimmte Tage machen das besonders spürbar: Geburtstage, Hochzeitstage, der Todestag. Aber auch Feste wie Weihnachten, Ostern oder der Jahreswechsel. Schon zu Lebzeiten waren das Momente intensiver Nähe. Kein Wunder also, dass besonders diese Anlässe voller Erinnerungen stecken. Darin liegt ihre Kraft: Wir können diese Tage dem Verstorbenen widmen. Wir verbringen sie mit ihm und lassen ihn gegenwärtig sein in Gedanken, Gefühlen, Ritualen und Erinnerungen. Die Trauerbegleiterin Erika Schärer-Santschi formuliert das so:
„Im Erinnern suchen wir das Vergangene auf. Wir sind Gast in unserem eigenen Leben. Wir besuchen unsere Vergangenheit und können Erlebtes wiederentdecken. (…) Jedes Mal, wenn wir uns wieder neu erinnern, erhalten wir die Möglichkeit, Erlebtes anders zu sehen, neu zu bewerten und es auf andere Weise in unsere Gegenwart und Zukunft einfließen zu lassen. Somit eröffnet Erinnern neue Zukunftsperspektiven.“⁵
Dieser Blick hat etwas Tröstliches: Was wir einmal miteinander geteilt haben, wird in uns neu lebendig. In jeder Erinnerung wird die Beziehung neu lebendig. Sie vertieft sich und wächst weiter. Erinnerung ist kein bloßer Rückblick, sondern ein Weiterleben der Liebe im Heute.
Liebe hört nicht einfach auf, nur weil ein Mensch gestorben ist. Sie findet neue Wege. Der Verstorbene bleibt da – als Gegenüber in Erinnerungen, in inneren Bildern, in vertrauten Gesten. Vor allem aber: Er bleibt der geliebte Mensch. Auch nach vielen Jahren.
Natürlich verändert sich diese Liebe. Sie sucht sich andere Ausdrucksformen, genauso wie sich jede Beziehung im Laufe der Zeit verändert. Manches wird stiller, manches feiner, manches klarer. Aber die Liebe bleibt. Und mit ihr bleibt auch der Verstorbene ein Teil des Lebens der Hinterbliebenen.
Trauer bedeutet deshalb nicht, die Liebe zu beenden. Im Gegenteil: Sie hilft, sie zu verwandeln. Sie begleitet den Prozess, in dem aus dem Schmerz eine andere, tiefere Form der Verbundenheit entsteht. Der amerikanische Schriftsteller Thornton Wilder hat das unübertroffen so ausgedrückt:
Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe – das einzige Bleibende, der einzige Sinn.⁶
Auch die Bibel hält in diesem Sinne fest, dass unsere Liebe nicht am Grab enden muss. Denn Gott ist die Liebe und die Liebe ist Gott. Deshalb bleibt unsere Liebe der sicherste Grund für eine lebendige und fortdauernde Beziehung zum Verstorbenen und des Verstorbenen zu uns.
MUSIK: Outrun– Helen Jane Long: Disconnect
Trauer auszudrücken, ist der Anfang von Trost. Dabei wird Trost oft missverstanden. Viele haben es selbst schon erleben müssen, dass verbreitete Redewendungen wie „Kopf hoch“ oder „das wird schon wieder“ einen schlimmen Schmerz noch schmerzhafter machen können. Dabei bedeutet trösten gar nicht, einen Schmerz klein zu reden oder ihn zu beseitigen!
Trost schenkt der Trauer ein Gegengewicht. Tröstlich ist, was Halt ermöglicht. Wenn spürbar wird, dass da etwas und jemand ist, der mich stützt. Wo ich mich geschützt fühle trotz der großen Verletzlichkeit. Wo ich so lange und viel Liebevolles erleben kann, bis in mir Zuversicht und Lebensfreude wieder wachsen können.
Die tröstende Begleitung eines trauernden Menschen meint, da zu sein, seine Gefühle des Kummers, der Angst, des Zorns oder der Verzweiflung auszuhalten und zu akzeptieren, ohne sie verändern zu wollen. Es bedeutet, die Geschichten mit anzuhören, die erzählt werden oder selbst zu erzählen, wie man den verstorbenen Menschen erlebt hat. Orte, an denen man sich lassen und sogar weinen kann, sind heute selten und sehr wertvoll. Wenn Menschen sich nicht sicher genug fühlen, um ihr Innenleben preiszugeben, verfügen sie über die Fähigkeit, ihre Trauer über lange Zeiträume zu unterdrücken. Der Körper hält die Trauer fest – um uns zu schützen. Diese Fähigkeit dient allerding nur als vorübergehende Schutzmaßnahme und darf das Trauern nicht zum Tabu machen.
Trauer verändert sich in ihrem ganz eigenen Tempo. Aus dem rohen Schmerz kann mit der Zeit Dankbarkeit wachsen: Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit, für das, was uns unverlierbar geblieben ist. Aus dem Gefühl, allein zurückzubleiben, kann die Erfahrung entstehen, dass der geliebte Mensch mit uns weitergeht – in Erinnerungen, in Prägungen, in dem, was wir aus dieser Beziehung mitgenommen haben.
So ist Trauer ein schwerer, aber auch lebendiger Weg. Sie kostet Zeit, sie verlangt Kraft, und sie zwingt uns zur ehrlichen Auseinandersetzung mit uns selbst und mit der Beziehung, die durch den Tod so radikal unterbrochen wurde. Trauer ist ein Weg, der erfahren lässt: Der geliebte Mensch bleibt uns nah. Nicht mehr sichtbar, aber spürbar. Nicht mehr in Gesprächen, aber in Erinnerungen, in Gewohnheiten, in kleinen Zeichen des Alltags. Denn Liebe geht nicht verloren. Sie sucht sich andere Wege, damit neues Leben möglich wird, ohne dass das alte verschwindet. Und darin liegt Trost.
MUSIK: Willow – Helen Jane Long: Intervention
¹ Lewis, Clive Staples: Über die Trauer. Aus dem Englischen von Alfred Kuoni. Insel Verlag, Berlin 2012, S. 9.
² https://www.friedwald.de/unternehmen/presse/detail/studie-trauer | http://www.trauerforschung.de/index.php/forschungsbereiche/bewaeltigung
³ Lewis, Clive Staples: Über die Trauer. Aus dem Englischen von Alfred Kuoni. Insel Verlag, Berlin 2012, S. 52.
⁴ Psalm 6,7f.
⁵ https://www.friedrich-verlag.de/friedrich-plus/pflegen-demenz-palliativ/symptome-interventionen/trauern-heisst-sich-erinnern-9128 (zuletzt abgerufen am 01.10.2025)
⁶ Wilder Thornton, Die Brücke von San Luis Rey, S. 158.
