Begegnungen haben das Potenzial, Leben zu verändern. Was wäre aus Judas Iskariot geworden, hätte er Jesus von Nazareth nie getroffen? Mit Sicherheit würden wir jetzt nicht über ihn sprechen. Wahrscheinlich wäre er in Vergessenheit geraten, zu einem von vielen unbekannten Namen der Geschichte geworden.
So aber gilt Judas als einer der meistgehassten Männer der Weltgeschichte. Der Mensch Judas lässt nicht los, was er getan hat, wühlt auf. Er ist der Freund, der den verrät, dem er alles verdankt. Für die sprichwörtlichen 30 Silberlinge liefert er Jesus ans Messer. Am Ende hängt er sich auf – allen späteren Generationen zur bleibenden Mahnung, welch desaströse Konsequenzen Verrat hat.
Aber wer ist dieser Judas, was weiß man von ihm, was kann man sicher über ihn sagen?
Unser Bild von Judas setzt sich aus ein paar ziemlich verächtlichen Andeutungen in der Bibel zusammen, aus Gerüchten und Spekulationen. Völlig unklar bleiben die Motive, die Judas zu seiner Handlungsweise bewogen haben könnten. Für die biblischen Autoren Lukas und Johannes steht fest, dass es nicht nur menschliche Bosheit ist, die sich in der Person des Judas Iskariot offenbart. Dieser Verrat ist eine derart teuflische Geschichte, dass nur eine teuflische Besessenheit dahinterstecken kann. Eigentlich könnte ein Mensch dazu nicht fähig sein, dass er seinen Gott und Heiland ans Messer liefert. Doch diesen eher hilflosen Versuchen merkt man an, dass keiner von ihnen wirklich vorhat, das furchtbare Rätsel zu lösen. Keiner der biblischen Autoren sucht nach einer psychologischen Erklärung: schwere Kindheit, Vaterkomplex, mangelnde Anerkennung. Das Rätsel Judas bleibt rätselhaft. Und dennoch ist auch dieser Beitrag ein Versuch, sich dem Rätsel zu nähern.
MUSIK – Titel: Cathedral – Interpret: Matthew Coleman – Album: MJ Cole Presents Madrugada
Judas hatte aus nächster Nähe erlebt, wie Menschen in der Begegnung mit Jesus eine Wandlung durchliefen, geradezu neue Menschen wurden. Das hat alle Beteiligten beeindruckt, sicher auch ihn. Doch womöglich blieben Wünsche offen: Vielleicht erwog er, mit diesem Mann, der die Massen des Volkes begeistern, geradezu elektrisieren konnte, einen Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht zu organisieren? Er wollte Jesus möglicherweise dazu bringen, die politischen Verhältnisse zu ändern. Von außen unter Druck gesetzt, so mag Judas gedacht haben, müsste Jesus doch reagieren und endlich zeigen, was er aufzubieten hat.
Konnte er andererseits die entwaffnende Integrität und die herausfordernde Ehrlichkeit des Mannes aus Nazareth nicht neben sich ertragen? Machte sie ihm seine eigene Schwäche, seine Anfälligkeit für materiellen Reichtum allzu deutlich?
Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht, warum sich der Jünger Judas, den Jesus selbst berufen und in seinen inneren Zirkel geholt hatte, seinem Freund Jesus entfremdete. Wir wissen nicht, wann ihm seine Hoffnung verloren ging und warum er verzweifelte. Die Bibel hilft uns kaum weiter. Nicht einmal die Bedeutung seines Beinamens ist sicher. „Iskariot“ wird entweder als „Mann aus Kariot“ interpretiert oder als „Sikarier“; das heißt wörtlich übersetzt „Mann mit dem Dolch“. So nannten die Römer die Angehörigen einer glühend nationalistischen jüdischen Widerstandsgruppe, die sich durch ihre Perfektion im Meuchelmord auszeichneten: Mitten in einer großen Menschenmenge stachen sie plötzlich zu und verschwanden blitzschnell in der Masse. So unwahrscheinlich ist die Erklärung nicht, denn in der Jüngerschar Jesu befand sich mindestens ein Mitglied der jüdischen Befreiungsbewegung, nämlich Simon der Eiferer.
Was die Evangelien von Judas Iskariot berichten, sind nur ein paar dürre Fakten. Packend und plastisch, aber bloße Fantasie ist demgegenüber, wie Luise Rinser in ihrem Roman „Mirjam“ die Rolle des Judas im Freundeskreis Jesu schildert, den sie „Jeschua“ nennt:
Ein kluger Kopf, doch finster. Er redete wenig, aber sah und hörte alles. Er lachte nie und schlief wenig. Immer war er neben dem Rabbi, wie ein Wachhund war er, sprungbereit. Er entfernte sich nur, um Nachrichten einzuholen. Er wurde zum Kurier: Täglich brachte er Berichte von Verhaftungen, Enteignungen, Foltern und Kreuzigungen; er notierte die steigende Höhe der Preise und der Steuern, der Dreifachsteuern: an die Priester, die Römer, den einheimischen Hof, er schilderte das Elend der Armen und das Luxusleben der Oberen, und schaute dabei mit glühenden Augen auf Jeschua. Er war ein Aufstörer. Jeschua verwies es ihm nie, er hörte ihm schweigend und unbewegt zu. (…) Für die andern war er der Nachrichtenbringer und der Geldverwalter. In dieses Amt hatte er sich selbst eingesetzt. Ihr müsst doch wissen, wie viel ihr im Beutel habt; so blindlings drauflos zu leben, das geht nicht.
MUSIK – Titel: Alone – Interpret: Iiro Rantala – Album: Anyone With a Heart (with Adam Baldych & Asja Valcic)
Auch wenn wir in einem Dickicht von Fragen auf Vermutungen angewiesen sind, dürfte eines doch sicher sein: Judas blieb der tiefste Sinn der Botschaft des Rabbis Jesus verschlossen. Weil seine eigenen Vorstellungen von der Rolle und Person Jesu auf Dauer unvereinbar waren mit den Gedanken, die Jesus selbst darlegte und lebte, ist wohl in ihm mehr und mehr der Entschluss gereift, ihn nicht nur zu verlassen, sondern auszuliefern.
In Judas begegnet uns damit eine erschreckende Möglichkeit und Realität menschlicher Existenz: Wer die Wahrheit sucht, kann sich täuschen, kann seine persönlichen Wünsche mit der Wahrheit verwechseln und sich und andere ins Unglück stürzen. Andererseits gilt: Wahrheit ist kein Besitz. Wahrheit ist ein Wetzstein. Wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen, denn seit Jesu Wirken auf Erden, ist Wahrheit für uns Christen keine philosophische Größe, sondern eine Person, an der sich die Geister scheiden.
Judas ist an der personifizierten Wahrheit gescheitert. Als Jesus seine Erwartungen nicht erfüllte, versuchte er es gewissermaßen mit der Brechstange. Judas verhandelte mit den Hohenpriestern über die Auslieferung Jesu und ließ sich dafür dreißig Silberstücke auszahlen. Diese Summe war exakt der Preis, der damals für einen erwachsenen männlichen Sklaven bezahlt werden musste. Der einstige Freund Judas verkauft seinen Meister als Sklaven. Treffender könnte die Bibel wohl kaum zum Ausdruck bringen, dass es vor allem Judas Absicht war, diesem Jesus seinen eigenen Willen aufzuzwingen. Judas machte ihn zum Erfüllungsgehilfen, zum Sklaven seiner eigenen Absichten. Der Theologe Udo Zelinka schreibt daher treffend:
Damit aber macht er einen anderen Menschen unfrei und wird zum Verräter am innersten Kern der Botschaft Jesu. Denn immer dort, wo ein Mensch einem anderen – und sei es in bester Absicht – seinen Willen aufzwingt, immer dann degradiert er den Menschen zur fremd gelenkten Marionette. (…) Das ist der eigentliche Verrat, der Verrat am Besten, was einem Menschen mitgegeben wurde und für den auch die Botschaft Jesu steht – der Verrat an der Freiheit und damit zugleich ein Verrat an sich selbst! (…) Kein Mensch ist dazu geboren, die unerfüllten Träume und Wünsche eines anderen umzusetzen, sondern einzig und allein dazu, frei unter Gottes blauem Himmel seine je eigene Lebensmelodie zu finden und zu singen.
MUSIK – Titel: Tiersen: Porz Goret – Interpretin: Angèle Dubeau & La Pieta – Album: Pulsations
Eine solch dramatische Figur wie Judas Iskariot zieht Legenden an. Er wird mit Falschheit und Verrat assoziiert und infolge seiner finanziellen Machenschaften mit Geldgier in Verbindung gebracht. Denn Judas verkaufte nicht nur seinen Herrn und Meister, sondern verwaltete auch die monetären Ressourcen der Jüngergemeinschaft. Undenkbar, dass ein Typ wie er in diesen Belangen redlich handelte. Der Verräter Jesu, jahrhundertelang finstere Randfigur in Passionsspielen. Er diente über Jahrhunderte als Paradefall menschlicher Verworfenheit und war unentbehrlich in Predigten über moralisches Fehlverhalten und ewige Verdammnis. Noch heute beflügelt er Theologen und Literaten zu immer neuen Spekulationen. Er bleibt ein komplexes und schwer fassbares Rätsel für seine Interpreten und symbolisiert die dunklen Seiten des menschlichen Charakters.
Schon die alten Theologen malen diesen missratenen Apostel in den dunkelsten Farben. Ein Bischof mit Namen Papias von Hierapolis berichtet Ende des zweiten Jahrhunderts vom Auftreten und vom Sterben des Jesus Verräters und weidet sich lustvoll an den widerlichen Details:
Als herausragendes Beispiel der Gottlosigkeit ging Judas durch diese Welt. Sein Leib war so angeschwollen, dass er da, wo ein Wagen leicht durchfährt, nicht mehr hindurchgehen konnte. Seine Augenlider schwollen so sehr an, sagt man, dass er das Licht überhaupt nicht sah. (…). Aus seinem ganzen Körper floss Eiter heraus nebst Würmern, die ihn schon bei den natürlichsten Bedürfnissen quälten.
Als er nach vielen Qualen und Plagen starb, blieb der Ort, so sagt man, wegen des Gestanks bis heute öde und unbewohnt, ja bis zum heutigen Tag kann dort niemand vorbeigehen, ohne sich die Nase mit den Händen zuzuhalten. So sehr hat sich die Ausdünstung von seinem Körper über die Erde verbreitet.
Und am Ende des 4. Jahrhunderts schildert der aus Syrien stammende Dichter und Theologe Kyrillonas mit poetischer Hingabe, wie Judas den Abendmahlssaal verlässt:
Das Gefäß des Zornes verließ seinen Meister und der Tückische trennte sich von seinen Genossen. Die Eule, die sich der Finsternis rühmte, verließ die Tauben und floh krächzend hinaus. Da wurde das Haus licht, in welchem die verborgene Sonne mit ihren Strahlen weilte; es freute sich, weil die verfluchte Natter aus ihm entwichen war.
Natürlich haben solche Beschreibungen einen Grund und ein Ziel: Je unmenschlicher Judas beschrieben wird, desto weniger gleicht er mir, und desto sicherer kann ich davon ausgehen, dass ich nicht bin, wie er. Dass ich auch nicht so werden kann, wie er war. Je unähnlicher Judas mir wird, je unmenschlicher, desto weniger brauche ich ihn zu fürchten.
MUSIK – Titel: Barnkind – Interpret: Gabríel Ólafs – Album: Lullabies for Piano und Cello
Die biblische Überlieferung ist anders. Sie gibt sich diesen genüsslichen Ausschweifungen nicht hin. Wirft man einen Blick auf den Bericht über die Ereignisse beim letzten Abendmahl, wo Jesus und Judas mit den anderen Aposteln zusammensitzen, dann bekommt man folgende Schilderung zu hören:
Jesus wusste, dass nun die Zeit gekommen war, diese Welt zu verlassen und zum Vater zurückzukehren. Er hatte die Menschen geliebt, die zu ihm gehörten, und er hörte nicht auf, sie zu lieben. An diesem Abend aß Jesus zusammen mit seinen Jüngern. Der Teufel hatte Judas, den Sohn von Simon Iskariot, schon zum Verrat an Jesus angestiftet. (…)
Jesus sprach tief erschüttert: »Ja, es ist wahr: Einer von euch wird mich verraten!«
Die Jünger sahen sich fragend an und rätselten, wen er meinte.
Ganz nah bei Jesus hatte der Jünger seinen Platz, den Jesus sehr lieb hatte. Simon Petrus gab ihm ein Zeichen; er sollte Jesus fragen, wen er gemeint hatte. Da beugte der Jünger sich zu Jesus hinüber und fragte: »Herr, wer von uns ist es?«
Hier stoßen wir darauf, dass Jesus zurückhaltend sagt: Nicht Judas, sondern „einer von euch“ wird mich verraten. Die Jünger haben das richtig verstanden und entsprechend gingen fragende Blicke durch den Raum verbunden mit einem Rätselraten, wer hier gemeint sein könnte. Offenbar waren sich diese Menschen ihrer Abgründe eher bewusst als die, die Judas später zu einem Unmenschen machten. Ihnen geht durch Jesu Aussage auf: Für diese abgrundtiefe Gemeinheit kommt im Grunde jeder aus unserer Runde in Betracht. Die Veranlagung dazu steckt in allen. Verkehrt, wer jetzt mit dem Finger anklagend auf Andere zeigt.
Im Jahr 1494 erhielt Leonardo da Vinci den Auftrag, dieses letzte Abendmahl als Wandbild im Speisesaal des Mailänder Dominikanerklosters zu malen. Die Mönche stellten sich bereitwillig als Modelle für die darzustellenden Apostel zur Verfügung. Lediglich zwei Figuren auf dem Gemälde blieben unvollendet: Für Jesus und Judas gab es keine Freiwilligen.
Leonardo begab sich außerhalb des Klosters auf die Suche nach geeigneten Modellen. Dabei entdeckt er einen jungen Fährmann von anmutiger Schönheit und mit einem friedlichen Gesichtsausdruck. Der zeigte sich einverstanden, als Vorlage für Jesus zu dienen.
Kurze Zeit später traf Leonardo auf einen Betrunkenen, dessen Gesicht vom Alkohol tief gezeichnet war. In ihm erkannte er das geeignete Modell für Judas und die Aussicht auf Entlohnung in flüssiger Währung ließ den heruntergekommenen Mann zustimmen. Als der Betrunkene eines Tages die bereits angefertigte Darstellung von Jesus erblickte, reagierte er hoch emotional und verließ fluchtartig das Kloster. Es stellte sich bei Leonardos Nachforschungen heraus, dass der Mann einst selbst der Fährmann gewesen war, bevor persönliche Schicksalsschläge ihn zu einem Leben in Armut und Alkoholabhängigkeit führten.
Da ging Leonardo ein Licht auf: Der Jesus des Wandbildes hatte dem Judas sein eigenes früheres Gesicht gezeigt. In wenigen Jahren war aus „Jesus“ ein „Judas“ geworden. Die Legende von der Entstehung des berühmten Abendmahlsbildes bringt es gekonnt auf den Punkt: In jedem von uns kann ein Judas stecken. Niemand weiß, wie schnell widrige Lebensumstände zu Handlungsweisen führen, von denen man noch zuvor geschworen hätte, sie nie zu begehen.
MUSIK – Titel: Skoryk: Melody in a Moll (Arr. For Double Bass & Piano by Dominik Wagner) – Interpreten: Dominik Wagner & Lauma Skride – Album: Chapters – A Double Bass Story
Die Bibel weist vorsichtig, aber deutlich darauf hin, dass das Potential zum Verrat in jedem Menschen schlummert. Deswegen kann man nicht vom Leiden und Sterben Jesu erzählen, ohne von allen daran beteiligten Personen zu berichten: Die Jünger, die zunächst einschlafen, statt Jesus zu unterstützen und sich dann bei seiner Verhaftung allesamt aus dem Staub machen. Petrus, der noch kurz zuvor hoch und heilig versprach, mit Jesus zu sterben, wenn es darauf ankäme, der will seinen Herrn nicht mehr kennen. Der Hohe Rat mit den geladenen falschen Zeugen. Pilatus, der aus machtpolitischem Interesse Jesu Hinrichtung anordnet. Die grölende Menge, die einen Sündenbock sucht, um sich abzureagieren. Die Soldaten, die den Spielraum eines Befehls auf grausame Weise ausnutzen. Noch weitaus mehr müssten hier zur Vollständigkeit angeführt werden. Sie alle begehen in gewisser Weise Verrat.
Petrus behauptet gleich dreimal in Folge, Jesus nicht zu kennen. Dreimal nacheinander verrät er seinen Rabbi. Dass sich Petrus infolgedessen nicht das Leben nimmt, mag wohl auch daran liegen, dass ihn im Moment seines Verrates noch der Blick Jesu trifft. Die darauf folgenden Reue-Tränen hatten erlösende Wirkung.
Judas war das nicht vergönnt. Zwar hat er den Hohenpriestern noch gebeichtet: „Ich habe gesündigt, ich habe euch einen unschuldigen Menschen ausgeliefert.“ Doch er blieb mit seiner Schuld allein. Die brüske Abfuhr der Priester lautete: „Was geht das uns an? Das ist deine Sache.“ In seiner Verzweiflung sah Judas keinen Ausweg mehr, nur noch den Strick. Dabei hatte Jesus dem abtrünnigen Freund Judas im Moment der Gefangennahme auf dem Ölberg keinen Vorwurf gemacht. Stattdessen klagte er die schwer bewaffnete Schar an, die wie gegen einen Räuber ausgezogen sei.
Bestimmt hätte Judas früher Worte gebraucht, wie sie Kardinal Roger Etchegaray in einem Brief an ihn verfasst hat, jener Kardinal, der vom Vatikan als Vermittler nach Sarajewo, nach Mosambik und in den Irak gesandt worden war:
Sag mir, Judas, bist du wirklich verloren? (…) Warum nur, armer Judas, hast Du in Deiner eisigen Einsamkeit nicht das letzte Wort nachklingen lassen, das Jesus an Dich gerichtet hatte, das vertrauensvolle Wort (…), das herzergreifende Wort, das die Dunkelheit Deiner Verzweiflung hätte zerreißen können: Mein Freund. Hörst Du dieses Wort noch: Mein Freund?
Du wolltest Dich von Deinem eigenen Leben losreißen und hast Dich an einem Baum erhängt – wusstest Du nicht, dass Du, in Gottes Hände fallend, zur Beute seiner unendlichen Liebe würdest?
MUSIK – Titel: Victoria Yagling: Suite for Cello and Strings and Orchestra; II. Aria – Interpretin: Raphaela Gromes – Album: Femmes
Das Schicksal des Judas stellt eine bedeutende Frage an mich und an alle, die sich als Teil der Kirche Jesu Christi verstehen: Vermitteln wir Menschen in schwierigen Lebenslagen wirklich die Möglichkeit eines Neuanfangs und die Rückkehr zu Gott und seiner Gemeinschaft, unabhängig von ihren Verfehlungen? Bietet die christliche Gemeinschaft gescheiterten und schuldigen Personen die Chance, Reue zu zeigen, um Hilfe zu bitten und dem ersten überlieferten Wort Jesu im ältesten Evangelium zu vertrauen: „Kehrt um und glaubt an die Frohe Botschaft!“ Ein Neuanfang ist möglich, muss möglich sein. Kardinal Walter Kasper umschreibt die heutige Herausforderung so:
„Wir stehen vor der Aufgabe, die Barmherzigkeit aus ihrem Aschenputtel-Dasein, in das sie in der traditionellen Theologie geraten war, wieder herauszuholen.
Das muss geschehen, ohne dem banalen und verharmlosenden Bild vom ‚Lieben Gott‘ zu verfallen, das Gott zum gutmütigen Kumpel macht (…).
Die Barmherzigkeit muss als die Gott eigene Gerechtigkeit und als seine Heiligkeit verstanden werden. Es gilt, das Bild eines sympathischen Gottes zu zeichnen.“
Barmherzigkeit ist keine Sentimentalität. Barmherzigkeit zeigt uns, wie anders und herausfordernd Gott ist. Der bevorstehende Verrat des Judas hindert Jesus im Abendmahlssaal nicht daran, auch vor ihm in die Knie zu gehen und ihm die Füße zu waschen. ihm den Becher zu reichen, einen Bissen Brot darin einzutauchen und mit ihm zu teilen, zur Vergebung seiner Sünden. Und noch heute ist es so: Brot und Wein wird den nicht Makellosen und nicht Reinen gereicht. Es wird solchen gegeben, die Vergebung brauchen, sie nicht verdienen und denen sie trotzdem zugesprochen wird. Das wird nicht rückgängig gemacht und nicht durchgestrichen durch das, was wir Menschen auch anstellen, insgeheim oder am helllichten Tag.
An einem Kapitel der französischen Wallfahrtskirche Saint-Marie-Madeleine ist Judas zu sehen, wie er am Strick hängt. Gleich daneben lädt sich der auferstandene Jesus den toten Jünger auf die Schulter und trägt den Erhängten als der gute Hirte nach Hause. Auf wunderschöne Weise drückt sich hier die Hoffnung aus, dass mit dem Suizid des Judas noch nicht das letzte Urteil über sein Leben und seine Tat gefällt worden ist.
Was Gott wohl mit dem verzweifelten Leben des Judas gemacht hat? Wir wissen es nicht. Aber darauf dürfen wir vertrauen: Es gibt keine noch so große Schuld, die von Gott nicht vergeben werden will. Auch im Verrat, im Scheitern und Versagen liebt Gott sein Ebenbild: Den Menschen, den er selbst gemacht hat.
MUSIK – Titel: N. Boulanger: Cantique (Arr. For Double Bass & Piano by Dominik Wagner) – Interpreten: Dominik Wagner & Lauma Skride – Album: Chapters – A Double Bass Story