Für dich, Ju­das! – Neue Per­spek­ti­ven auf ei­nen ver­trau­ten Verräter

Für dich, Ju­das! – Neue Per­spek­ti­ven auf ei­nen ver­trau­ten Verräter

Be­geg­nun­gen ha­ben das Po­ten­zi­al, Le­ben zu ver­än­dern. Was wäre aus Ju­das Is­ka­ri­ot ge­wor­den, hät­te er Je­sus von Na­za­reth nie ge­trof­fen? Mit Si­cher­heit wür­den wir jetzt nicht über ihn spre­chen. Wahr­schein­lich wäre er in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten, zu ei­nem von vie­len un­be­kann­ten Na­men der Ge­schich­te geworden.
So aber gilt Ju­das als ei­ner der meist­ge­hass­ten Män­ner der Welt­ge­schich­te. Der Mensch Ju­das lässt nicht los, was er ge­tan hat, wühlt auf. Er ist der Freund, der den ver­rät, dem er al­les ver­dankt. Für die sprich­wört­li­chen 30 Sil­ber­lin­ge lie­fert er Je­sus ans Mes­ser. Am Ende hängt er sich auf – al­len spä­te­ren Ge­ne­ra­tio­nen zur blei­ben­den Mah­nung, welch de­sas­trö­se Kon­se­quen­zen Ver­rat hat.
Aber wer ist die­ser Ju­das, was weiß man von ihm, was kann man si­cher über ihn sagen?
Un­ser Bild von Ju­das setzt sich aus ein paar ziem­lich ver­ächt­li­chen An­deu­tun­gen in der Bi­bel zu­sam­men, aus Ge­rüch­ten und Spe­ku­la­tio­nen. Völ­lig un­klar blei­ben die Mo­ti­ve, die Ju­das zu sei­ner Hand­lungs­wei­se be­wo­gen ha­ben könn­ten. Für die bi­bli­schen Au­toren Lu­kas und Jo­han­nes steht fest, dass es nicht nur mensch­li­che Bos­heit ist, die sich in der Per­son des Ju­das Is­ka­ri­ot of­fen­bart. Die­ser Ver­rat ist eine der­art teuf­li­sche Ge­schich­te, dass nur eine teuf­li­sche Be­ses­sen­heit da­hin­ter­ste­cken kann. Ei­gent­lich könn­te ein Mensch dazu nicht fä­hig sein, dass er sei­nen Gott und Hei­land ans Mes­ser lie­fert. Doch die­sen eher hilf­lo­sen Ver­su­chen merkt man an, dass kei­ner von ih­nen wirk­lich vor­hat, das furcht­ba­re Rät­sel zu lö­sen. Kei­ner der bi­bli­schen Au­toren sucht nach ei­ner psy­cho­lo­gi­schen Er­klä­rung: schwe­re Kind­heit, Va­ter­kom­plex, man­geln­de An­er­ken­nung. Das Rät­sel Ju­das bleibt rät­sel­haft. Und den­noch ist auch die­ser Bei­trag ein Ver­such, sich dem Rät­sel zu nähern.

MU­SIK – Ti­tel: Ca­the­dral – In­ter­pret: Matthew Co­le­man – Al­bum: MJ Cole Pres­ents Madrugada

Ju­das hat­te aus nächs­ter Nähe er­lebt, wie Men­schen in der Be­geg­nung mit Je­sus eine Wand­lung durch­lie­fen, ge­ra­de­zu neue Men­schen wur­den. Das hat alle Be­tei­lig­ten be­ein­druckt, si­cher auch ihn. Doch wo­mög­lich blie­ben Wün­sche of­fen: Viel­leicht er­wog er, mit die­sem Mann, der die Mas­sen des Vol­kes be­geis­tern, ge­ra­de­zu elek­tri­sie­ren konn­te, ei­nen Auf­stand ge­gen die rö­mi­sche Be­sat­zungs­macht zu or­ga­ni­sie­ren?  Er woll­te Je­sus mög­li­cher­wei­se dazu brin­gen, die po­li­ti­schen Ver­hält­nis­se zu än­dern. Von au­ßen un­ter Druck ge­setzt, so mag Ju­das ge­dacht ha­ben, müss­te Je­sus doch re­agie­ren und end­lich zei­gen, was er auf­zu­bie­ten hat.
Konn­te er an­de­rer­seits die ent­waff­nen­de In­te­gri­tät und die her­aus­for­dern­de Ehr­lich­keit des Man­nes aus Na­za­reth nicht ne­ben sich er­tra­gen? Mach­te sie ihm sei­ne ei­ge­ne Schwä­che, sei­ne An­fäl­lig­keit für ma­te­ri­el­len Reich­tum all­zu deutlich?
Wir wis­sen es nicht. Wir wis­sen nicht, war­um sich der Jün­ger Ju­das, den Je­sus selbst be­ru­fen und in sei­nen in­ne­ren Zir­kel ge­holt hat­te, sei­nem Freund Je­sus ent­frem­de­te. Wir wis­sen nicht, wann ihm sei­ne Hoff­nung ver­lo­ren ging und war­um er ver­zwei­fel­te. Die Bi­bel hilft uns kaum wei­ter. Nicht ein­mal die Be­deu­tung sei­nes Bei­na­mens ist si­cher. „Is­ka­ri­ot“ wird ent­we­der als „Mann aus Ka­ri­ot“ in­ter­pre­tiert oder als „Sik­a­ri­er“; das heißt wört­lich über­setzt „Mann mit dem Dolch“. So nann­ten die Rö­mer die An­ge­hö­ri­gen ei­ner glü­hend na­tio­na­lis­ti­schen jü­di­schen Wi­der­stands­grup­pe, die sich durch ihre Per­fek­ti­on im Meu­chel­mord aus­zeich­ne­ten: Mit­ten in ei­ner gro­ßen Men­schen­men­ge sta­chen sie plötz­lich zu und ver­schwan­den blitz­schnell in der Mas­se. So un­wahr­schein­lich ist die Er­klä­rung nicht, denn in der Jün­ger­schar Jesu be­fand sich min­des­tens ein Mit­glied der jü­di­schen Be­frei­ungs­be­we­gung, näm­lich Si­mon der Eiferer.
Was die Evan­ge­li­en von Ju­das Is­ka­ri­ot be­rich­ten, sind nur ein paar dür­re Fak­ten. Pa­ckend und plas­tisch, aber blo­ße Fan­ta­sie ist dem­ge­gen­über, wie Lui­se Rin­ser in ih­rem Ro­man „Mir­jam“ die Rol­le des Ju­das im Freun­des­kreis Jesu schil­dert, den sie „Je­schua“ nennt:

Ein klu­ger Kopf, doch fins­ter. Er re­de­te we­nig, aber sah und hör­te al­les. Er lach­te nie und schlief we­nig. Im­mer war er ne­ben dem Rab­bi, wie ein Wach­hund war er, sprung­be­reit. Er ent­fern­te sich nur, um Nach­rich­ten ein­zu­ho­len. Er wur­de zum Ku­rier: Täg­lich brach­te er Be­rich­te von Ver­haf­tun­gen, Ent­eig­nun­gen, Fol­tern und Kreu­zi­gun­gen; er no­tier­te die stei­gen­de Höhe der Prei­se und der Steu­ern, der Drei­fach­steu­ern: an die Pries­ter, die Rö­mer, den ein­hei­mi­schen Hof, er schil­der­te das Elend der Ar­men und das Lu­xus­le­ben der Obe­ren, und schau­te da­bei mit glü­hen­den Au­gen auf Je­schua. Er war ein Auf­stö­rer. Je­schua ver­wies es ihm nie, er hör­te ihm schwei­gend und un­be­wegt zu. (…) Für die an­dern war er der Nach­rich­ten­brin­ger und der Geld­ver­wal­ter. In die­ses Amt hat­te er sich selbst ein­ge­setzt. Ihr müsst doch wis­sen, wie viel ihr im Beu­tel habt; so blind­lings drauf­los zu le­ben, das geht nicht.

MU­SIK – Ti­tel: Alo­ne – In­ter­pret: Iiro Ran­ta­la – Al­bum: An­yo­ne With a He­art (with Adam Bal­dych & Asja Valcic)

Auch wenn wir in ei­nem Di­ckicht von Fra­gen auf Ver­mu­tun­gen an­ge­wie­sen sind, dürf­te ei­nes doch si­cher sein: Ju­das blieb der tiefs­te Sinn der Bot­schaft des Rab­bis Je­sus ver­schlos­sen. Weil sei­ne ei­ge­nen Vor­stel­lun­gen von der Rol­le und Per­son Jesu auf Dau­er un­ver­ein­bar wa­ren mit den Ge­dan­ken, die Je­sus selbst dar­leg­te und leb­te, ist wohl in ihm mehr und mehr der Ent­schluss ge­reift, ihn nicht nur zu ver­las­sen, son­dern auszuliefern.
In Ju­das be­geg­net uns da­mit eine er­schre­cken­de Mög­lich­keit und Rea­li­tät mensch­li­cher Exis­tenz: Wer die Wahr­heit sucht, kann sich täu­schen, kann sei­ne per­sön­li­chen Wün­sche mit der Wahr­heit ver­wech­seln und sich und an­de­re ins Un­glück stür­zen. An­de­rer­seits gilt: Wahr­heit ist kein Be­sitz. Wahr­heit ist ein Wetz­stein. Wir müs­sen uns mit ihr aus­ein­an­der­set­zen, denn seit Jesu Wir­ken auf Er­den, ist Wahr­heit für uns Chris­ten kei­ne phi­lo­so­phi­sche Grö­ße, son­dern eine Per­son, an der sich die Geis­ter scheiden.
Ju­das ist an der per­so­ni­fi­zier­ten Wahr­heit ge­schei­tert. Als Je­sus sei­ne Er­war­tun­gen nicht er­füll­te, ver­such­te er es ge­wis­ser­ma­ßen mit der Brech­stan­ge. Ju­das ver­han­del­te mit den Ho­hen­pries­tern über die Aus­lie­fe­rung Jesu und ließ sich da­für drei­ßig Sil­ber­stü­cke aus­zah­len. Die­se Sum­me war ex­akt der Preis, der da­mals für ei­nen er­wach­se­nen männ­li­chen Skla­ven be­zahlt wer­den muss­te. Der eins­ti­ge Freund Ju­das ver­kauft sei­nen Meis­ter als Skla­ven. Tref­fen­der könn­te die Bi­bel wohl kaum zum Aus­druck brin­gen, dass es  vor al­lem Ju­das  Ab­sicht war, die­sem Je­sus sei­nen ei­ge­nen Wil­len auf­zu­zwin­gen. Ju­das mach­te ihn zum Er­fül­lungs­ge­hil­fen, zum Skla­ven sei­ner ei­ge­nen Ab­sich­ten. Der Theo­lo­ge Udo Ze­lin­ka schreibt da­her treffend:

Da­mit aber macht er ei­nen an­de­ren Men­schen un­frei und wird zum Ver­rä­ter am in­ners­ten Kern der Bot­schaft Jesu. Denn im­mer dort, wo ein Mensch ei­nem an­de­ren – und sei es in bes­ter Ab­sicht – sei­nen Wil­len auf­zwingt, im­mer dann de­gra­diert er den Men­schen zur fremd ge­lenk­ten Ma­rio­net­te. (…) Das ist der ei­gent­li­che Ver­rat, der Ver­rat am Bes­ten, was ei­nem Men­schen mit­ge­ge­ben wur­de und für den auch die Bot­schaft Jesu steht – der Ver­rat an der Frei­heit und da­mit zu­gleich ein Ver­rat an sich selbst! (…) Kein Mensch ist dazu ge­bo­ren, die un­er­füll­ten Träu­me und Wün­sche ei­nes an­de­ren um­zu­set­zen, son­dern ein­zig und al­lein dazu, frei un­ter Got­tes blau­em Him­mel sei­ne je ei­ge­ne Le­bens­me­lo­die zu fin­den und zu singen.

MU­SIK – Ti­tel: Tier­sen: Porz Go­ret – In­ter­pre­tin: An­gè­le Du­beau & La Pie­ta – Al­bum: Pulsations

Eine solch dra­ma­ti­sche Fi­gur wie Ju­das Is­ka­ri­ot zieht Le­gen­den an. Er wird mit Falsch­heit und Ver­rat as­so­zi­iert und in­fol­ge sei­ner fi­nan­zi­el­len Ma­chen­schaf­ten mit Geld­gier in Ver­bin­dung ge­bracht. Denn Ju­das ver­kauf­te nicht nur sei­nen Herrn und Meis­ter, son­dern ver­wal­te­te auch die mo­ne­tä­ren Res­sour­cen der Jün­ger­ge­mein­schaft. Un­denk­bar, dass ein Typ wie er in die­sen Be­lan­gen red­lich han­del­te. Der Ver­rä­ter Jesu, jahr­hun­der­te­lang fins­te­re Rand­fi­gur in Pas­si­ons­spie­len. Er dien­te über Jahr­hun­der­te als Pa­ra­de­fall mensch­li­cher Ver­wor­fen­heit und war un­ent­behr­lich in Pre­dig­ten über mo­ra­li­sches Fehl­ver­hal­ten und ewi­ge Ver­damm­nis. Noch heu­te be­flü­gelt er Theo­lo­gen und Li­te­ra­ten zu im­mer neu­en Spe­ku­la­tio­nen. Er bleibt ein kom­ple­xes und schwer fass­ba­res Rät­sel für sei­ne In­ter­pre­ten und sym­bo­li­siert die dunk­len Sei­ten des mensch­li­chen Charakters.
Schon die al­ten Theo­lo­gen ma­len die­sen miss­ra­te­nen Apos­tel in den dun­kels­ten Far­ben. Ein Bi­schof mit Na­men Pa­pi­as von Hie­r­a­po­lis be­rich­tet Ende des zwei­ten Jahr­hun­derts vom Auf­tre­ten und vom Ster­ben des Je­sus Ver­rä­ters und wei­det sich lust­voll an den wi­der­li­chen Details:

Als her­aus­ra­gen­des Bei­spiel der Gott­lo­sig­keit ging Ju­das durch die­se Welt. Sein Leib war so an­ge­schwol­len, dass er da, wo ein Wa­gen leicht durch­fährt, nicht mehr hin­durch­ge­hen konn­te. Sei­ne Au­gen­li­der schwol­len so sehr an, sagt man, dass er das Licht über­haupt nicht sah. (…). Aus sei­nem gan­zen Kör­per floss Ei­ter her­aus nebst Wür­mern, die ihn schon bei den na­tür­lichs­ten Be­dürf­nis­sen quälten.
Als er nach vie­len Qua­len und Pla­gen starb, blieb der Ort, so sagt man, we­gen des Ge­stanks bis heu­te öde und un­be­wohnt, ja bis zum heu­ti­gen Tag kann dort nie­mand vor­bei­ge­hen, ohne sich die Nase mit den Hän­den zu­zu­hal­ten. So sehr hat sich die Aus­düns­tung von sei­nem Kör­per über die Erde verbreitet.

Und am Ende des 4. Jahr­hun­derts schil­dert der aus Sy­ri­en stam­men­de Dich­ter und Theo­lo­ge Ky­ril­lo­nas mit poe­ti­scher Hin­ga­be, wie Ju­das den Abend­mahls­saal verlässt:

Das Ge­fäß des Zor­nes ver­ließ sei­nen Meis­ter und der Tü­cki­sche trenn­te sich von sei­nen Ge­nos­sen. Die Eule, die sich der Fins­ter­nis rühm­te, ver­ließ die Tau­ben und floh kräch­zend hin­aus. Da wur­de das Haus licht, in wel­chem die ver­bor­ge­ne Son­ne mit ih­ren Strah­len weil­te; es freu­te sich, weil die ver­fluch­te Nat­ter aus ihm ent­wi­chen war.

Na­tür­lich ha­ben sol­che Be­schrei­bun­gen ei­nen Grund und ein Ziel: Je un­mensch­li­cher Ju­das be­schrie­ben wird, des­to we­ni­ger gleicht er mir, und des­to si­che­rer kann ich da­von aus­ge­hen, dass ich nicht bin, wie er. Dass ich auch nicht so wer­den kann, wie er war. Je un­ähn­li­cher Ju­das mir wird, je un­mensch­li­cher, des­to we­ni­ger brau­che ich ihn zu fürchten.

MU­SIK – Ti­tel: Barn­kind – In­ter­pret: Ga­b­rí­el Ólafs – Al­bum: Lul­la­bies for Pia­no und Cello

Die bi­bli­sche Über­lie­fe­rung ist an­ders. Sie gibt sich die­sen ge­nüss­li­chen Aus­schwei­fun­gen nicht hin. Wirft man ei­nen Blick auf den Be­richt über die Er­eig­nis­se beim letz­ten Abend­mahl, wo Je­sus und Ju­das mit den an­de­ren Apos­teln zu­sam­men­sit­zen, dann be­kommt man fol­gen­de Schil­de­rung zu hören:

Je­sus wuss­te, dass nun die Zeit ge­kom­men war, die­se Welt zu ver­las­sen und zum Va­ter zu­rück­zu­keh­ren. Er hat­te die Men­schen ge­liebt, die zu ihm ge­hör­ten, und er hör­te nicht auf, sie zu lie­ben. An die­sem Abend aß Je­sus zu­sam­men mit sei­nen Jün­gern. Der Teu­fel hat­te Ju­das, den Sohn von Si­mon Is­ka­ri­ot, schon zum Ver­rat an Je­sus angestiftet. (…)
Je­sus sprach tief er­schüt­tert: »Ja, es ist wahr: Ei­ner von euch wird mich verraten!«
Die Jün­ger sa­hen sich fra­gend an und rät­sel­ten, wen er meinte.
Ganz nah bei Je­sus hat­te der Jün­ger sei­nen Platz, den Je­sus sehr lieb hat­te. Si­mon Pe­trus gab ihm ein Zei­chen; er soll­te Je­sus fra­gen, wen er ge­meint hat­te. Da beug­te der Jün­ger sich zu Je­sus hin­über und frag­te: »Herr, wer von uns ist es?«

Hier sto­ßen wir dar­auf, dass Je­sus zu­rück­hal­tend sagt: Nicht Ju­das, son­dern „ei­ner von euch“ wird mich ver­ra­ten. Die Jün­ger ha­ben das rich­tig ver­stan­den und ent­spre­chend gin­gen fra­gen­de Bli­cke durch den Raum ver­bun­den mit ei­nem Rät­sel­ra­ten, wer hier ge­meint sein könn­te. Of­fen­bar wa­ren sich die­se Men­schen ih­rer Ab­grün­de eher be­wusst als die, die Ju­das spä­ter zu ei­nem Un­men­schen mach­ten. Ih­nen geht durch Jesu Aus­sa­ge auf: Für die­se ab­grund­tie­fe Ge­mein­heit kommt im Grun­de je­der aus un­se­rer Run­de in Be­tracht. Die Ver­an­la­gung dazu steckt in al­len. Ver­kehrt, wer jetzt mit dem Fin­ger an­kla­gend auf An­de­re zeigt.
Im Jahr 1494 er­hielt Leo­nar­do da Vin­ci den Auf­trag, die­ses letz­te Abend­mahl als Wand­bild im Spei­se­saal des Mai­län­der Do­mi­ni­ka­ner­klos­ters zu ma­len. Die Mön­che stell­ten sich be­reit­wil­lig als Mo­del­le für die dar­zu­stel­len­den Apos­tel zur Ver­fü­gung. Le­dig­lich zwei Fi­gu­ren auf dem Ge­mäl­de blie­ben un­voll­endet: Für Je­sus und Ju­das gab es kei­ne Freiwilligen.
Leo­nar­do be­gab sich au­ßer­halb des Klos­ters auf die Su­che nach ge­eig­ne­ten Mo­del­len. Da­bei ent­deckt er ei­nen jun­gen Fähr­mann von an­mu­ti­ger Schön­heit und mit ei­nem fried­li­chen Ge­sichts­aus­druck. Der zeig­te sich ein­ver­stan­den, als Vor­la­ge für Je­sus zu dienen.
Kur­ze Zeit spä­ter traf Leo­nar­do auf ei­nen Be­trun­ke­nen, des­sen Ge­sicht vom Al­ko­hol tief ge­zeich­net war. In ihm er­kann­te er das ge­eig­ne­te Mo­dell für Ju­das und die Aus­sicht auf Ent­loh­nung in flüs­si­ger Wäh­rung ließ den her­un­ter­ge­kom­me­nen Mann zu­stim­men. Als der Be­trun­ke­ne ei­nes Ta­ges die be­reits an­ge­fer­tig­te Dar­stel­lung von Je­sus er­blick­te, re­agier­te er hoch emo­tio­nal und ver­ließ flucht­ar­tig das Klos­ter. Es stell­te sich bei Leo­nar­dos Nach­for­schun­gen her­aus, dass der Mann einst selbst der Fähr­mann ge­we­sen war, be­vor per­sön­li­che Schick­sals­schlä­ge ihn zu ei­nem Le­ben in Ar­mut und Al­ko­hol­ab­hän­gig­keit führten.
Da ging Leo­nar­do ein Licht auf: Der Je­sus des Wand­bil­des hat­te dem Ju­das sein ei­ge­nes frü­he­res Ge­sicht ge­zeigt. In we­ni­gen Jah­ren war aus „Je­sus“ ein „Ju­das“ ge­wor­den. Die Le­gen­de von der Ent­ste­hung des be­rühm­ten Abend­mahls­bil­des bringt es ge­konnt auf den Punkt: In je­dem von uns kann ein Ju­das ste­cken. Nie­mand weiß, wie schnell wid­ri­ge Le­bens­um­stän­de zu Hand­lungs­wei­sen füh­ren, von de­nen man noch zu­vor ge­schwo­ren hät­te, sie nie zu begehen.

MU­SIK – Ti­tel: Sko­ryk: Me­lo­dy in a Moll (Arr. For Dou­ble Bass & Pia­no by Do­mi­nik Wag­ner) – In­ter­pre­ten: Do­mi­nik Wag­ner & Lau­ma Skri­de – Al­bum: Chap­ters – A Dou­ble Bass Story

Die Bi­bel weist vor­sich­tig, aber deut­lich dar­auf hin, dass das Po­ten­ti­al zum Ver­rat in je­dem Men­schen schlum­mert. Des­we­gen kann man nicht vom Lei­den und Ster­ben Jesu er­zäh­len, ohne von al­len dar­an be­tei­lig­ten Per­so­nen zu be­rich­ten: Die Jün­ger, die zu­nächst ein­schla­fen, statt Je­sus zu un­ter­stüt­zen und sich dann bei sei­ner Ver­haf­tung al­le­samt aus dem Staub ma­chen. Pe­trus, der noch kurz zu­vor hoch und hei­lig  ver­sprach, mit Je­sus zu ster­ben, wenn es dar­auf an­kä­me, der will sei­nen Herrn nicht mehr ken­nen. Der Hohe Rat mit den ge­la­de­nen fal­schen Zeu­gen. Pi­la­tus, der aus macht­po­li­ti­schem In­ter­es­se Jesu Hin­rich­tung an­ord­net. Die grö­len­de Men­ge, die ei­nen Sün­den­bock sucht, um sich ab­zu­re­agie­ren. Die Sol­da­ten, die den Spiel­raum ei­nes Be­fehls auf grau­sa­me Wei­se aus­nut­zen. Noch weit­aus mehr müss­ten hier zur Voll­stän­dig­keit an­ge­führt wer­den. Sie alle be­ge­hen in ge­wis­ser Wei­se Verrat.
Pe­trus be­haup­tet gleich drei­mal in Fol­ge, Je­sus nicht zu ken­nen. Drei­mal nach­ein­an­der ver­rät er sei­nen Rab­bi. Dass sich Pe­trus in­fol­ge­des­sen nicht das Le­ben nimmt, mag wohl auch dar­an lie­gen, dass ihn im Mo­ment sei­nes Ver­ra­tes noch der Blick Jesu trifft. Die dar­auf fol­gen­den Reue-Trä­nen hat­ten er­lö­sen­de Wirkung.
Ju­das war das nicht ver­gönnt. Zwar hat er den Ho­hen­pries­tern noch ge­beich­tet: „Ich habe ge­sün­digt, ich habe euch ei­nen un­schul­di­gen Men­schen aus­ge­lie­fert.“ Doch er blieb mit sei­ner Schuld al­lein. Die brüs­ke Ab­fuhr der Pries­ter lau­te­te: „Was geht das uns an? Das ist dei­ne Sa­che.“ In sei­ner Ver­zweif­lung sah Ju­das kei­nen Aus­weg mehr, nur noch den Strick. Da­bei hat­te Je­sus dem ab­trün­ni­gen Freund Ju­das im Mo­ment der Ge­fan­gen­nah­me auf dem Öl­berg kei­nen Vor­wurf ge­macht. Statt­des­sen klag­te er die schwer be­waff­ne­te Schar an, die wie ge­gen ei­nen Räu­ber aus­ge­zo­gen sei.
Be­stimmt hät­te Ju­das frü­her Wor­te ge­braucht, wie sie Kar­di­nal Ro­ger Et­che­ga­ray in ei­nem Brief an ihn ver­fasst hat, je­ner Kar­di­nal, der vom Va­ti­kan als Ver­mitt­ler nach Sa­ra­je­wo, nach Mo­sam­bik und in den Irak ge­sandt wor­den war:

Sag mir, Ju­das, bist du wirk­lich ver­lo­ren? (…) War­um nur, ar­mer Ju­das, hast Du in Dei­ner ei­si­gen Ein­sam­keit nicht das letz­te Wort nach­klin­gen las­sen, das Je­sus an Dich ge­rich­tet hat­te, das ver­trau­ens­vol­le Wort (…), das herz­er­grei­fen­de Wort, das die Dun­kel­heit Dei­ner Ver­zweif­lung hät­te zer­rei­ßen kön­nen: Mein Freund. Hörst Du die­ses Wort noch: Mein Freund?
Du woll­test Dich von Dei­nem ei­ge­nen Le­ben los­rei­ßen und hast Dich an ei­nem Baum er­hängt – wuss­test Du nicht, dass Du, in Got­tes Hän­de fal­lend, zur Beu­te sei­ner un­end­li­chen Lie­be würdest?

MU­SIK – Ti­tel: Vic­to­ria Yag­ling: Suite for Cel­lo and Strings and Or­ches­tra; II. Aria – In­ter­pre­tin: Ra­pha­e­la Gro­mes – Al­bum: Femmes

Das Schick­sal des Ju­das stellt eine be­deu­ten­de Fra­ge an mich und an alle, die sich als Teil der Kir­che Jesu Chris­ti ver­ste­hen: Ver­mit­teln wir Men­schen in schwie­ri­gen Le­bens­la­gen wirk­lich die Mög­lich­keit ei­nes Neu­an­fangs und die Rück­kehr zu Gott und sei­ner Ge­mein­schaft, un­ab­hän­gig von ih­ren Ver­feh­lun­gen? Bie­tet die christ­li­che Ge­mein­schaft ge­schei­ter­ten und schul­di­gen Per­so­nen die Chan­ce, Reue zu zei­gen, um Hil­fe zu bit­ten und dem ers­ten über­lie­fer­ten Wort Jesu im äl­tes­ten Evan­ge­li­um zu ver­trau­en: „Kehrt um und glaubt an die Fro­he Bot­schaft!“ Ein Neu­an­fang ist mög­lich, muss mög­lich sein. Kar­di­nal Wal­ter Kas­per um­schreibt die heu­ti­ge Her­aus­for­de­rung so:

„Wir ste­hen vor der Auf­ga­be, die Barm­her­zig­keit aus ih­rem Aschen­put­tel-Da­sein, in das sie in der tra­di­tio­nel­len Theo­lo­gie ge­ra­ten war, wie­der herauszuholen.
Das muss ge­sche­hen, ohne dem ba­na­len und ver­harm­lo­sen­den Bild vom ‚Lie­ben Gott‘ zu ver­fal­len, das Gott zum gut­mü­ti­gen Kum­pel macht (…).
Die Barm­her­zig­keit muss als die Gott ei­ge­ne Ge­rech­tig­keit und als sei­ne Hei­lig­keit ver­stan­den wer­den. Es gilt, das Bild ei­nes sym­pa­thi­schen Got­tes zu zeichnen.“

Barm­her­zig­keit ist kei­ne Sen­ti­men­ta­li­tät. Barm­her­zig­keit zeigt uns, wie an­ders und her­aus­for­dernd Gott ist. Der be­vor­ste­hen­de Ver­rat des Ju­das hin­dert Je­sus im Abend­mahls­saal nicht dar­an, auch vor ihm in die Knie zu ge­hen und ihm die Füße zu wa­schen. ihm den Be­cher zu rei­chen, ei­nen Bis­sen Brot dar­in ein­zu­tau­chen und mit ihm zu tei­len, zur Ver­ge­bung sei­ner Sün­den. Und noch heu­te ist es so: Brot und Wein wird den nicht Ma­kel­lo­sen und nicht Rei­nen ge­reicht. Es wird sol­chen ge­ge­ben, die Ver­ge­bung brau­chen, sie nicht ver­die­nen und de­nen sie trotz­dem zu­ge­spro­chen wird. Das wird nicht rück­gän­gig ge­macht und nicht durch­ge­stri­chen durch das, was wir Men­schen auch an­stel­len, ins­ge­heim oder am hell­lich­ten Tag.
An ei­nem Ka­pi­tel der fran­zö­si­schen Wall­fahrts­kir­che Saint-Ma­rie-Made­lei­ne ist Ju­das zu se­hen, wie er am Strick hängt. Gleich da­ne­ben lädt sich der auf­er­stan­de­ne Je­sus den to­ten Jün­ger auf die Schul­ter und trägt den Er­häng­ten als der gute Hir­te nach Hau­se. Auf wun­der­schö­ne Wei­se drückt sich hier die Hoff­nung aus, dass mit dem Sui­zid des Ju­das noch nicht das letz­te Ur­teil über sein Le­ben und sei­ne Tat ge­fällt wor­den ist.
Was Gott wohl mit dem ver­zwei­fel­ten Le­ben des Ju­das ge­macht hat? Wir wis­sen es nicht. Aber dar­auf dür­fen wir ver­trau­en: Es gibt kei­ne noch so gro­ße Schuld, die von Gott nicht ver­ge­ben wer­den will. Auch im Ver­rat, im Schei­tern und Ver­sa­gen liebt Gott sein Eben­bild: Den Men­schen, den er selbst ge­macht hat.

MU­SIK – Ti­tel: N. Bou­lan­ger: Can­tique (Arr. For Dou­ble Bass & Pia­no by Do­mi­nik Wag­ner) – In­ter­pre­ten: Do­mi­nik Wag­ner & Lau­ma Skri­de – Al­bum: Chap­ters – A Dou­ble Bass Story