„Wie hätte ich euch denn sonst alle zusammenbringen sollen?“ So fragt der ältere Herr über den gedeckten Tisch hinweg seine verdutzt dastehende Kinderschar.
Der Werbespot „Heimkommen“ sorgte in der Weihnachtszeit 2015 für Abruf-Rekorde. Der Zuschauer hat während der knapp zwei Minuten nicht den Eindruck, einen Werbespot zu sehen, sondern vielmehr einen ansprechenden Kurzfilm.
Die erwachsenen Kinder des alleinstehenden Mannes hatten zuvor nach und nach das gemeinsame Weihnachtsessen beim Vater abgesagt – alle!
Schließlich erhalten die Kinder jeweils eine Nachricht, die sie zutiefst erschüttert. Schwarz gekleidet kommen die trauernden Geschwister nun doch auf unterschiedlichsten Wegen ins Elternhaus. Im nächsten Moment gelangt die Gruppe in das Wohnzimmer, wo der Esstisch feierlich gedeckt ist.
Die Kinder sind sichtlich irritiert. Doch im nächsten Moment kommt der Vater aus der Küche – lebendig und wohlbehalten, und löst die Situation auf: „Wie hätte ich euch denn sonst alle zusammenbringen sollen?“ In der letzten Szene sitzen alle gemeinsam am Tisch, feiern Weihnachten – und genießen den Braten einer Lebensmittelkette, die den Werbespot in Auftrag gegeben hat.
Ein hochemotionaler Film und genialer Schachzug, der an einem grundlegenden menschlichen Wunsch ansetzt: dem nach Mahlgemeinschaft – und das dann auch noch zu einem so wichtigen Fest wie Weihnachten. Heute ist noch nicht Weihnachten – aber Erntedank, und das Essen ist für beide Anlässe ein zentrales Thema.
Deshalb lohnt es sich, einen ausgiebigen Blick auf das Thema Essen und seine Folgen zu werfen. Aber Achtung: Sie könnten Hunger bekommen. Denn Essen kann so viel mehr als einfach nur satt machen.
MUSIK: Dona Nobis Pacem 2 – Mari Samuelsen: Mari Samuelsen
Gemeinsam an einem Tisch sitzen; Essen miteinander teilen und genießen; währenddessen miteinander sprechen. Das sind seit jeher identitäts- und gemeinschaftsstiftende Momente. Menschen zu sich einzuladen zum Essen, ihnen damit persönliche Wertschätzung und Gastfreundschaft entgegenzubringen, zeigt noch immer den besonderen Stellenwert von Tischgemeinschaften.
Untersuchungen weisen allerdings nach, dass die gemeinsamen Mahlzeiten im eigenen Zuhause vom Aussterben bedroht sind. Die beziehungsstärkenden Mahlzeiten mit ihren vielen Funktionen werden zu seltenen „Tankstellenerlebnissen“. Sie waren einmal weit mehr als das. Sie sind und sollten es auch wieder werden: ein bedeutender Teil von Ruhe, der Kitt, der Familien- und Freundesbeziehungen zusammenhält.
Dass der wöchentlich wiederkehrende jüdische Sabbat mit einer Mahlzeit beginnt, hat eine innere Logik. Wie sonst sollte man es schaffen, nicht mit all dem weiterzumachen, das einen die ganze Arbeitswoche lang getrieben hat? Anders gesagt: Wie kann man anfangen, aufzuhören?
Mit der verpflichtenden Mahlzeit werden andere Sinne angesprochen als die, die im laufenden Betrieb Dienst haben. Jetzt geht es um Genuss und Vergnügen, Essen und Trinken, Kerzenschein und Nähe. Und das als Verpflichtung. Es geht um die Rhythmisierung des Lebens. Und die ist wichtig: Das Leben wird für uns immer schwieriger, weil wir diese Grundrhythmen, die das Leben auch sehr menschlich machen, aus den Augen verlieren.
Ein existenzieller ist der Wechsel von der Arbeit zur Ruhe. Dieser wird in jüdischer Tradition zuerst körperlich spürbar. Darin liegt eine tiefe Weisheit und ein wohltuendes Gegengewicht für uns verkopfte Westeuropäer.
MUSIK: Movement, Before All Flowers – Max Richter: In A Landscape
Es geschieht an langen Abenden: Wenn die Teller bereitgestellt sind, der Wein eingeschenkt und wenn in unser Reden Ruhe gekommen ist, dann nehmen Gespräche einen Anfang, die das Leben vertiefen. Es entstehen ein Ort und eine Geborgenheit, in der wir es wagen können, über Dinge zu reden, über die wir bei einer kurzen Kaffeepause nie reden würden. Beziehungen gewinnen an Tiefe. Wir teilen unsere Lebensgeschichten, Ängste, unsere Verwundungen und Hoffnungen. Wir haben in dieser Zeit die Welt einmal aus den Augen des anderen gesehen.
So schmeckt Essen immer nach einem Mehr. Denn Menschen haben nicht nur Hunger nach Essen, sondern auch nach Zuspruch, Zugehörigkeit und Sinn. Auch dieses tiefe Verlangen findet an solchen Abenden Stillung.
In diesem Sinne hat Jesus von Nazareth sehr gern getafelt. So überliefern es vor allem die Evangelisten Matthäus und Lukas.
Seine Tischgemeinschaften sind sehr unterschiedlich. Er sitzt mit Hohen und Niedrigen zusammen, mit Frommen und mit Sündern. Gemeinsam ist die Tatsache, dass das Essen mit Jesus verwandelt. Es lässt die Menschen nie unverändert zurück.
Eine meiner liebsten biblischen Episoden in dieser Hinsicht ist die über den Zollpächter Zachäus. Zollpächter waren nicht nur die Finanzbeamten der ungeliebten römischen Besatzungsmacht, sondern trieben die Steuern übergebührlich in die Höhe, und niemand konnte ihnen das verwehren. So kollaborierten sie nicht nur mit dem Feind, sondern nahmen auch die eigenen Landsleute aus.
Jedenfalls steigt dieser Zachäus auf einen Baum, um Jesus sehen zu können. Dann geschieht das Eigenartige. Als Jesus vorbeikommt, bleibt er genau unter dem Baum stehen. Jesus schaut zu Zachäus auf.
Es sind die kleinen Züge im Evangelium, die mich immer wieder bewegen. In Jericho hat jeder auf Zachäus heruntergeschaut. Einmal im buchstäblichen Sinne, weil er klein von Gestalt war. Aber auch im übertragenen, moralischen Sinne: Der da, der Berufssünder. Jetzt darf Zachäus erleben: Jesus schaut zu mir empor. Aber nicht nur das: Jesus lässt sich von ihm einladen und schenkt ihm so eine Aufmerksamkeit und Zuwendung, die Zachäus schon seit Jahren von niemandem mehr bekommen hat und die die Umstehenden provoziert. Dann essen sie miteinander und es geschieht, wie immer: Begegnung mit Jesus bedeutet Verwandlung. So berichtet der Evangelist Lukas in der Bibel:
Als die Leute das sahen, empörten sie sich über Jesus: „Wie kann er das nur tun? Er lädt sich bei einem Gauner und Betrüger ein!“ Zachäus aber wandte sich an Jesus und sagte: „Herr, ich werde die Hälfte meines Vermögens an die Armen verteilen, und wem ich am Zoll zu viel abgenommen habe, dem gebe ich es vierfach zurück.“ Da entgegnete ihm Jesus: „Heute hat Gott dir und allen, die in deinem Haus leben, Rettung gebracht.“
Hier sind wir am Mittelpunkt der christlichen Botschaft angelangt: Verwandlung. Christlicher Glaube will nicht bloßes Schönreden und ein Trostangebot sein. Von seiner Substanz her ist er Vision und Verwandlung. Es geht um das Geschenk einer grundlegenden Veränderung und die Entscheidung, dieses Geschenk im eigenen Leben zu entfalten. Dieser Kern kommt im entscheidenden und für Christen verbindlichen Mahl zum Ausdruck, das Jesus am Gründonnerstag seinen Nachfolgern hinterlassen und aufgetragen hat. Im letzten Abendmahl, in den knappen sogenannten Einsetzungsworten ist das Wesentliche christlicher Essenskultur enthalten:
In der Nacht, in der unser Herr Jesus verraten wurde, nahm er ein Brot, dankte Gott dafür, brach es in Stücke und sprach: »Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Feiert dieses Mahl immer wieder und denkt daran, was ich für euch getan habe, sooft ihr dieses Brot esst!« Ebenso nahm er nach dem Essen den Kelch mit Wein, reichte ihn seinen Jüngern und sprach: »Dieser Kelch ist der neue Bund zwischen Gott und euch, der durch mein Blut besiegelt wird. Sooft ihr aus diesem Kelch trinkt, denkt an mich und an das, was ich für euch getan habe!«
MUSIK: Late and Soon (Edit) – Max Richter: In A Landscape
Jesus nahm das Brot. Verwandlung geschieht durch Annehmen: „Was nicht angenommen wurde, ist auch nicht erlöst“, lautet ein Glaubenssatz der frühen Kirche. Wer sich selbst, seine Geschichte mitsamt ihren Schatten annehmen kann, in dem kann sich etwas lösen und verwandeln.
Jesus brach das Brot. Wandlung geschieht im Zerbrechen. So sehr es im Einzelfall schmerzen kann: Im Scheitern und Zerbrechen von Plänen kann auch eine Möglichkeit warten, die uns für neue Wege und Möglichkeiten öffnet.
Jesus reichte das Brot seinen Jüngern und sprach. Verwandlung geschieht durch Mitteilen. Geteiltes Leid ist halbes Leid, weil es den Stachel des einsamen Ertragenmüssens verliert. Geteilte Freude ist doppelte Freude; denn nur wenn mir andere meine Erfolge gönnen, machen sie nicht einsam, sondern sind willkommene, schöne Lebensmomente. Eine Schuld verwandelt sich, wenn ich darüber rede oder gar um Verzeihung bitte.
Jesus sprach: Nehmt und esst alle davon. Das ist mein Leib. Verwandlung geschieht durch Berührung und Aneignung. Solange wir uns etwas oder jemanden vom Leib halten, bleiben wir distanziert und unberührt. Wenn wir uns von Freude oder Schmerz eines anderen anrühren lassen, so macht das etwas mit uns. Wenn dem Liebesbekenntnis die Umarmung und der Kuss folgen, wird es erst richtig glaubhaft.
Und Jesus sprach weiter: Der für euch hingegeben wird. Wandlung geschieht durch Hingabe. Alles, was wir in und aus Liebe weggeben, ist nicht verloren. In Michael Endes Buch ‚Die unendliche Geschichte‘ hat der Protagonist Balthasar Bux Angst vor dieser Hingabe. Die gute Dame Aiuola ermutigt ihn: „Nichts geht verloren, alles verwandelt sich.“
Ohne Verwandlung läuft es nicht beim christlichen Abendmahl. Wir können nicht hinausgehen, wie wir hineingekommen sind. Dann hätte das Abendmahl seine Absicht und seine Wirkung verfehlt. Wir kommen, um uns von Gott lieben zu lassen, mit seinem Leib und Blut und wir gehen hinaus, um die Menschen zu lieben mit unserem Leib und Blut.
MUSIK: Cluster (Edit) – Peter Gregson: Patina
Der Mahlauftrag Jesu bedeutet also kurz und knapp: Christsein heißt miteinander essen. Das Mahl steht im Mittelpunkt kirchlicher Feiern und ist die Feierform schlechthin. Das Mahl ist ein Zeichen der Gegenwart Jesu. Er ist präsent mit seinen Worten und Taten und vor allem mit seiner Hingabe an die Menschen. Was ihn ausmacht, wird im Mahl gegenwärtig.
Dementsprechend beinhaltet das christliche Mahl eine hohe soziale Forderung: Ohne Gemeinschaft mit zuvor Verachteten und Verstoßenen keine Gemeinschaft mit Jesus. So wie Jesus gerade die Ausgestoßenen und Marginalisierten an den Tisch holte, damit sie nicht ausgeschlossen bleiben, bleibt das ein Grundauftrag christlicher Gemeinschaft. Maßstab dafür ist das Wort Jesu: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder oder für eine meiner geringsten Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan!“
Gerade am heutigen Erntedankfest bietet es sich an, diese Dimensionen auf dem Tisch auszubreiten: Nehmen Sie Platz! Machen Sie es sich gemütlich mit Leuten, die Ihnen am Herzen liegen und mit denen Sie unbedingt wieder Zeit verbringen sollten. Essen Sie zusammen und genießen Sie das Miteinander. Tun Sie es aber auch in aller Dankbarkeit für die Menschen, mit denen Sie Ihr Leben teilen, für den Genuss, den Sie sich bereitet haben und für den viele andere Personen und Arbeitsschritte nötig waren.
Und lassen Sie diese Dankbarkeit und Freude anderen zu Teil werden, in dem Sie bewusst Menschen in den Blick nehmen, die hungern, vielleicht nicht nur nach einer warmen Mahlzeit, sondern nach Vertrauen, Liebe, Hoffnung und die danach hungern, gesehen zu werden. So bleibt es dabei: Christsein heißt miteinander essen.
MUSIK: Suite No. 4 in E – Flat Major, BWV 1010: III. Courante – Peter Gregson: Bach: The Cello Suites – Recomposed by Peter Gregson