Zeit – Eine neue Perspektive

Mit ei­ner Wahr­schein­lich­keit von 8 zu 2 ge­hö­ren Sie zu den ärms­ten Men­schen die­ser Welt; und nein, da­bei habe ich we­ni­ger ihr Bank­kon­to im Blick als eine Ar­mut die sich ge­sell­schafts- und kul­tur­über­grei­fend breit macht, von Ame­ri­ka über Deutsch­land bis hin nach Ja­pan. Es geht dar­um, dass Sie zeit­arm sind. Sie ha­ben zu vie­le Din­ge zu tun und zu we­nig Zeit, um sie zu tun. 2012 ga­ben 50% der be­rufs­tä­ti­gen Ame­ri­ka­ner an, dass sie stän­dig ge­hetzt sei­en und 70% ga­ben zu Pro­to­koll, dass sie nie ge­nug Zeit hät­ten. Drei Jah­re spä­ter wa­ren es be­reits 80%, die sag­ten, sie hät­ten nie aus­rei­chend Zeit. Und nein, bei der Zeit­ar­mut han­delt es sich nicht um ein Lu­xus­pro­blem der ent­wi­ckel­ten In­dus­trie­na­tio­nen, son­dern um ein Pro­blem mit ernst zu neh­men­den ge­sell­schaft­li­chen und per­sön­li­chen Fol­gen. Des­we­gen lohnt sich ein Blick dar­auf, wie wir mit un­se­rer Zeit umgehen.

Die Tech­nik mit all ih­ren wun­der­ba­ren Er­fin­dun­gen: Wasch­ma­schi­nen, Mi­kro­wel­len, Saug­ro­bo­ter, Smart­phones, Ta­blets und noch smar­te­ren Lap­tops. All die­se Er­fin­dun­gen ha­ben dazu bei­getra­gen, dass wir Ar­beit in deut­lich kür­ze­rer und ef­fi­zi­en­te­rer Zeit er­le­digt be­kom­men. Wie kann es aber sein, dass wir uns den­noch zeit­är­mer denn je füh­len. Es stimmt. Dem Men­schen steht heu­te deut­lich mehr Frei­zeit zur Ver­fü­gung als noch vor 50 Jah­ren. Es stimmt aber auch, dass die­se Mehr-Zeit an Er­ho­lung, die uns zur Ver­fü­gung steht, deut­lich ge­rin­ge­ren Er­ho­lungs­wert hat als noch vor 50 Jah­ren. Das hat et­was da­mit zu tun, wie wir über die­ses Mehr an Zeit, das wir durch die Tech­nik ge­won­nen ha­ben, wie wir dar­über den­ken. Wie wir die­se Zeit struk­tu­rie­ren und wie wir sie wert­schät­zen. Da kommt uns ein Pa­ra­dox in die Que­re. Die Zeit, über die wir mehr ver­fü­gen, über die ver­fü­gen wir in ei­ner Art und Wei­se, dass sie uns am Ende stresst und nicht dazu bei­trägt, dass wir er­hol­ter, ent­spann­ter und ge­las­se­ner durchs Le­ben gehen.

Das hat mit ei­nem Phä­no­men zu tun, dass man am bes­ten als Zeit­kon­fet­ti be­schrei­ben kann. Neh­men wir mal an, Sie sind be­rufs­tä­tig und ha­ben am Abend um 19 Uhr eine Stun­de Zeit für sich. Die­se eine Stun­de Zeit wird meis­tens da­durch boy­kot­tiert, dass zwi­schen­durch noch ein, zwei, drei E‑Mails ein­tru­deln. Die ers­te igno­rie­ren Sie ge­konnt. Bei der zwei­ten stel­len Sie fest, es ist un­nö­ti­ge Wer­bung und auf die drit­te re­agie­ren Sie dann doch mal eben. Au­ßer­dem tru­deln noch ei­ni­ge So­cial­me­dia Mit­tei­lun­gen ein über schreck­li­che Leu­te, die noch schreck­li­che­re Din­ge ge­tan ha­ben und Whats­App mel­det sich mit dem ei­nen oder an­de­ren ge­halt­vol­len Emo­ji, wenn­gleich we­nig be­deut­sam. Au­ßer­dem, au­ßer­dem kom­men über Teams noch ein paar Nach­rich­ten von Kol­le­gen hin­ein. Auch da: die ers­te igno­rie­ren Sie ge­konnt, über die zwei­te re­gen Sie sich auf und bei der drit­ten stel­len Sie fest, die­se Sa­che, die müss­ten Sie doch mal eben fix ter­mi­nie­ren und er­le­di­gen. So zer­fa­sert die­se eine vol­le Stun­de Er­ho­lung, die Sie ge­habt hät­ten, in ein­zel­ne klei­ne Kon­fet­ti Ab­schnit­te von ma­xi­mal sechs bis zehn un­ge­stör­te Mi­nu­ten. An­sons­ten wer­den Sie im­mer wie­der un­ter­bro­chen von ir­gend­wel­chen Nach­rich­ten, Mit­tei­lun­gen und To-Dos, die sich auf­drän­gen. Und selbst wenn, selbst wenn es Ih­nen ge­lingt, in die­ser ei­nen Stun­de Ihr Smart­phone, Ta­blet und den Com­pu­ter ganz be­harr­lich und dis­zi­pli­niert zu igno­rie­ren, so wird al­lein die An­we­sen­heit die­ser Ge­rä­te Sie im­mer wie­der dar­an er­in­nern, dass es even­tu­ell, wo­mög­lich, un­ter Um­stän­den et­was zu tun, zu er­le­di­gen und zu or­ga­ni­sie­ren gäbe. Da­mit ha­ben Sie zwei Din­ge, die sich fun­da­men­tal wi­der­spre­chen: Er­ho­lung und Ar­beit. Weil die­se bei­den Din­ge nun mal nicht so ide­al mit­ein­an­der zu kom­bi­nie­ren sind, des­we­gen wird al­lein der Ge­dan­ke an die mög­li­che Ar­beit, die kom­men könn­te, dazu füh­ren, dass Sie in­ne­ren Druck, An­ge­spannt­heit und wo­mög­lich Pa­nik ver­spü­ren. So hat die­se eine Stun­de am Ende we­nig Er­ho­lungs­wert für Sie gebracht.

Das Gan­ze wird da­durch noch be­feu­ert, dass wir in ei­ner Kul­tur le­ben, in der Be­schäf­tigt­sein ein Aus­weis für ei­nen so­zia­len Sta­tus ist. Sie sind flei­ßig. Sie ha­ben et­was zu tun. Sie be­mü­hen sich. Sie wol­len vor­an­kom­men im Le­ben. Ir­gend­wie sug­ge­riert das Be­schäf­tigt­sein ei­nen so­zia­len Sta­tus. Nicht um­sonst hat sich das ›Rum­har­zen‹ als In­be­griff fürs Ab­schal­ten, Ent­span­nen und Nichts­tun breit­ge­macht. Das zeigt auch eine Wer­tig­keit an, die wir dem Nichts­tun ver­schrie­ben ha­ben. Da­mit hat sich in­zwi­schen eine Träg­heits­a­ver­si­on breit ge­macht. Das Nichts­tun, das Her­mann Hes­se noch als die Kunst des Mü­ßig­gangs be­schrieb, das ist heu­te ein Lu­xus, dem schon ein leicht an­rü­chi­ger Bei­geschmack an­haf­tet. Da­bei le­gen Stu­di­en ei­gent­lich nahe, dass wir die Lan­ge­wei­le, das Ge­fühl von un­end­li­cher Zeit, die sich ins Nichts aus­dehnt, dass wir das brau­chen. Wir brau­chen es für un­se­re Krea­ti­vi­tät, für neue Ideen, für neu­en Le­bens­mut. Wir brau­chen das Ge­fühl von lan­ger Zeit, von Lan­ge­wei­le. Wir schei­nen ganz of­fen­sicht­lich an ei­ner Un­ter­be­wer­tung der Zeit zu lei­den. Wir schei­nen den Wert von Zeit nicht mehr rich­tig ein­schät­zen zu können.

Wir ge­hen manch­mal Kuh­han­del ein mit Blick auf un­se­re Zeit, bei de­nen doch am Ende ein gro­ßes Fra­ge­zei­chen zu­rück­blei­ben müss­te. In­zwi­schen hat sich ge­zeigt, dass Geld nur re­la­tiv un­se­ren Glücks- und Zu­frie­den­heits­stand ver­meh­ren kann. So­bald wir ein ge­wis­ses Le­vel an Ver­mö­gen er­reicht ha­ben, das da­bei hilft, un­se­re Rech­nun­gen zu be­glei­chen, den ei­nen und an­de­ren Ur­laub zu er­mög­li­chen und uns hin und wie­der ei­nen Ge­nuss zu gön­nen, so­bald die­ser Sta­tus er­reicht ist, trägt Geld nicht mehr wirk­lich viel zu un­se­rem Glücks- und Zu­frie­den­heits­ge­fühl bei. Den­noch han­deln wir manch­mal in die­sen Din­gen ziem­lich merk­wür­dig. Da wer­den Ki­lo­me­tern mehr zu­rück­ge­legt auf dem Weg zu ei­ner Tank­stel­le, wo es den Li­ter Ben­zin für ein paar Cent we­ni­ger gibt. Das lässt den Men­schen am Ende be­frie­digt zu­rück, weil er um die paar Eu­ros mehr in sei­ner Ta­sche weiß. Die Zeit al­ler­dings, die er da­für ver­schwen­det hat, die Le­bens­zeit, die da­bei drauf­ge­gan­gen ist für die­se paar Eu­ros, die wird nur sel­ten in Rech­nung ge­stellt. Zeit scheint hin und wie­der in all un­se­ren Be­rech­nun­gen kei­nen Wert zu genießen.

Auf der an­de­ren Sei­te wie­der­um sind wir sehr op­ti­mis­tisch, was un­se­re Zeit an­geht. Wir pla­nen groß­zü­gig in die Zu­kunft hin­ein, neh­men uns Din­ge vor und ge­hen da­von aus, dass uns in Zu­kunft Et­li­ches mehr an Zeit zur Ver­fü­gung steht, als es jetzt ak­tu­ell der Fall ist, um dann in der Zu­kunft bei all un­se­ren en­ga­gier­ten Pla­nun­gen ir­gend­wann fest­zu­stel­len, ach herr­je der Zeit­plan ist doch deut­lich en­ger als ge­dacht. Die Zeit rennt uns da­von und wir ge­ra­ten wie­der ein­mal un­ter Druck. Wir un­ter­be­wer­ten un­se­rer Zeit und wir ge­hen bei un­se­ren Pla­nun­gen viel zu op­ti­mis­tisch mit der Zeit um. Un­se­ren Tausch­han­del Geld ge­gen Zeit den soll­ten wir hin und wie­der doch ein­mal deut­lich in den Blick nehmen.