Aus der Sicht der Philosophie lässt sich keine der heutzutage öffentlich kursierenden Thesen so schnell aus der Welt schaffen wie die Behauptung, dass es keine Wahrheit gibt. Denn wer behauptet, dass es Wahrheit nicht gibt, kann nicht anders, als genau diese abgelehnte Wahrheit für seine Aussage in Anspruch zu nehmen. Also widerspricht er sich selbst. Allein mit dem Anspruch auf die Wahrheit seiner Behauptung, dass es Wahrheit nicht gibt, hat er ein Beispiel dafür gegeben, dass er selbst zumindest auf die Wahrheit nicht verzichten kann.
Dieser Hinweis ist keine Spitzfindigkeit! Mit jeder sinnvollen Aussage, letztlich mit dem Wissen selbst, ist notwendig der Anspruch auf Wahrheit verknüpft.
Wahrheit ist, wie nicht nur schon Sokrates und Platon wussten, sondern auch der Apostel Paulus (vgl. Gal 5,7), vielfältig und kann, je nach Standpunkt, sogar höchst gegensätzlich sein. Überdies gibt es viele Möglichkeiten, ihr aus dem Weg zu gehen. Aber daraus zu schließen, dass es keine Wahrheit gibt, ist gerade so klug wie der Kinderglaube, mit dem Schließen der Augen sei auch der verschwunden, den man gerade noch sah.
So können auch Erwachsene verfahren: Sie können sich dumm stellen, kommentarlos über etwas hinweggehen oder von der Sache ablenken. Und vor allem: Sie können lügen. Die Lüge aber ist der sicherste Indikator dafür, dass es eine Wahrheit gibt – von der jemand nicht sprechen will.
Wer bewusst lügt, hat zumindest eine Vorstellung davon, was richtig ist; meist weiß er sogar genau, warum er die Wahrheit verschweigt. Er weiß, dass die Wahrheit auch andere betrifft – wenn jemand z.B. einen Diebstahl verschweigt. Also kennt er (der Sache nach) die soziale Reichweite der Wahrheit und ihre kommunikative Bedeutung.
Mit der Verdichtung der besiedelten Erde zum „globalen Dorf“ wächst der Wert der Wahrheit kontinuierlich an: Je komplexer und zugleich komprimierter die Lebensverhältnisse werden, umso wichtiger ist die verlässliche Koordination der erdumspannenden Aktivitäten.
Kein anderes Evangelium ist so voll von der Suche nach Wahrheit wie das Johannesevangelium. Von Anfang bis Ende durchzieht die geradezu fieberhafte Suche die Texte und gipfelt in dem Selbstanspruch Jesu:
„Ich bin die Wahrheit.“ (Joh 14,6)
Es ist und bleibt ein sagenhafter Anspruch zu verkünden, dass wir im Evangelium die volle Wahrheit finden. Vor allen Dingen ist es gefährlich. Es verleitet dazu, selbstgefällig auf Buchstaben zu zeigen und damit zu meinen, man besitze die Wahrheit – vor allem im Unterschied zu denjenigen, die sie eben nicht besitzen und erst recht nicht verstanden haben. Solch ein Umgang mit der Wahrheit entspringt einem ungesunden Sicherheitsstreben und endet in Fundamentalismus und Fanatismus.
Deswegen tut es gut, dass Jesus deutlich macht, dass seine Wahrheit niemals zu besitzen ist, vor allen Dingen nicht, um Menschen in Besitz zu nehmen. Er bindet die Wahrheit an sich selbst. Er ist die Wahrheit. Damit ist die Wahrheit eine Person. Es kann also keiner die Wahrheit in Besitz nehmen, sei er noch so fromm und rechtgläubig. Eine Person kann man nämlich nicht besitzen. Mit einer Person kann man eine Beziehung aufbauen, ein Gespräch suchen, Gemeinschaft haben, aber besitzen kann man sie niemals. Die christliche Wahrheit kann daher auch niemals ein reines Gedankengebäude oder eine Ideologie oder eine Sammlung von Erkenntnissen sein. Christliche Wahrheit ist nur in Beziehung zu finden.
Wahrheit in der Bibel ist immer Beziehung. Das kommt auch daher, dass die Sprache der Bibel immer von Handlungen her gedacht ist, nicht von fest stehenden Dingen. Handlungen aber, wenn sie wahr sein sollen, müssen verlässlich sein. Güte ist nur dann verlässlich, wenn sie immer wieder passiert, wenn jemand sie ausübt, wenn jemand sie erlebt.
Liebe ist nichts, was ich heute feststelle und dann besitze. Ich kann sie weder heim tragen noch kann ich sie messen. Liebe ist nur dann Liebe, wenn sie in meinem Leben passiert. Und sie muss immer wieder neu passieren, weil sie sonst stirbt. Der Gott der Bibel ist wahr, weil Menschen ihn immer neu erleben können. Weil er etwas mit uns Menschen zu tun haben will und weil er sich immer wieder neu zeigt.
Wenn es also um die Wahrheit geht, geht es um unser gelebtes Leben. Als Pilatus Jesus fragt: Was ist Wahrheit? (Joh 18,38) Pilatus sucht nach einer Wahrheit, die er benutzen kann, die er in die Hand nehmen kann und mit der er etwas anfangen kann. Da bleibt Jesus die Antwort schuldig. Wahrheit kann nicht vollkommen erfasst, sondern eben nur gelebt werden. Bei der christlichen Wahrheit heißt es daher: Sieh dir unser Leben! Sieh, wie wir uns um die Menschen bemühen, wie wir mit Konflikten umgehen, mit eigener und fremder Schuld, wie wir nach Gerechtigkeit streben, wie wir Frieden zu schaffen versuchen. Sieh dir an, wie wir leben und sterben, dann weißt du, was unsere Wahrheit ist.
Damit schützt Jesus die Wahrheit vor dem machtbesessenen und lieblosen Zugriff der Menschen. Wahrheit darf eben nicht zum Totschlagargument werden. Man kann über die Wahrheit nicht bloß sprechen, man muss mit ihr reden und sie vor allem leben.
GEBET
Wenn ich nicht weiß, worauf es in meinem Leben ankommt;
wenn es mir schwerfällt,
Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden:
Gott, gib mir die Gabe der Weisheit,
damit ich erkenne, was wichtig ist, und mein Leben danach ausrichte.
Wenn sich Probleme wie ein Berg vor mir auftürmen,
und ich dann alleine nicht mehr weiterweiß;
wenn ich mich frage, wie ich mich verhalten soll:
Gott, gib mir die Gabe der Erkenntnis, damit ich die Dinge sehe, wie sie sind, mir nichts vormache, und das Richtige tue.
Wenn ich mich frage, welchen Sinn all mein Tun hat
und wofür ich eigentlich lebe:
Gott, gib mir die Gabe der Einsicht,
damit ich nicht ziellos vor mich hinlebe.
Lass mich erkennen, dass Du hinter allem bist. Amen.