Wabi Sabi

Wabi Sabi

Per­fek­ti­on ist ein un­na­tür­li­ches und schäd­li­ches Kon­zept. Un­na­tür­lich des­halb, weil es, so­weit ich weiß, nichts in un­se­rer phy­si­schen Welt gibt, das nä­her be­trach­tet un­se­rer De­fi­ni­ti­on von Per­fek­ti­on stand­hält: et­was Ma­kel­lo­ses, das kei­ner wei­te­ren Ver­bes­se­rung be­darf. Nicht ein­mal un­se­re Stan­dards von Mess­ge­nau­ig­keit ent­spre­chen die­ser De­fi­ni­ti­on. Der In­ter­na­tio­na­le Ki­lo­gramm­pro­to­typ zum Bei­spiel, auch lie­be­voll Le Grand K ge­nannt, der phy­si­sche Ge­gen­stand, der den Maß­stab für eine der am wei­tes­ten ver­brei­te­ten Maß­ein­hei­ten der Welt ge­setzt hat. Du­pli­ka­te da­von hat man rund um den Erd­ball ge­schickt, da­mit auch an­de­re Län­der ihn zu ih­rem Stan­dard ma­chen kön­nen. Jetzt hat sich her­aus­ge­stellt, dass die­se «per­fek­ten» Ge­gen­stän­de mit der Zeit ihr Ge­wicht ver­än­dert hat­ten. Für ein Ur­ge­wicht ein ech­tes Pro­blem. Das per­fek­te Ab­so­lu­te soll­te schließ­lich kei­ner Ver­än­de­rung un­ter­lie­gen. Aus die­sem Grund wer­den sol­che Richt­ma­ße mitt­ler­wei­le in Form von Glei­chun­gen und Denk­mo­del­len aus­ge­drückt. Jetzt könn­ten Sie zu­rück­schie­ßen: «Was ist mit mei­nen fünf­zehn Punk­ten in der Ma­the­klau­sur? Das ist die höchs­te Punkt­zahl, also qua­si die per­fek­te!» Klar, Ihre Ant­wor­ten wa­ren rich­tig, aber wie lau­te­ten die Fra­gen? Wozu dien­te die Klau­sur? War das die per­fek­te Art, Ihr Kön­nen zu eva­lu­ie­ren? Nein, Tests und Klau­su­ren lie­fern im bes­ten Fal­le An­nä­he­rungs­wer­te. Es gibt eine Men­ge Men­schen, die gute Prü­fungs­er­geb­nis­se, aber schlech­te Leis­tun­gen er­brin­gen. Und es gibt so­gar noch mehr Men­schen, die schlech­te Prü­fungs­er­geb­nis­se, aber gute Leis­tun­gen er­brin­gen. Es lässt sich mit Fug und Recht be­haup­ten, dass Per­fek­ti­on le­dig­lich in den nicht greif­ba­ren Denk­mo­del­len, Theo­rien und Vor­stel­lun­gen exis­tiert, mit de­nen man ein Ide­al­bild de­fi­niert. War­um ha­cke ich auf die­sem Punkt so her­um? Weil die Vor­stel­lung von Per­fek­ti­on nur all­zu häu­fig un­se­re Fä­hig­keit, un­se­re Po­ten­zia­le zu le­ben, sabotiert.

In Ja­pan gibt es den Be­griff wabi-sabi. Er be­sagt, dass die Schön­heit ei­nes Ge­gen­stands ge­ra­de in sei­ner Un­voll­kom­men­heit liegt. Das steht in di­rek­tem Kon­trast zur west­li­chen Auf­fas­sung, die Schön­heit häu­fig mit Per­fek­ti­on gleich­setzt. Wabi-Sabi fei­ert die Ver­gäng­lich­keit, das In­di­vi­du­el­le und den mit Ma­keln be­haf­te­ten Cha­rak­ter ei­nes Ge­gen­stan­des. Denn ge­nau die­se Ei­gen­schaf­ten ma­chen ihn erst ein­zig­ar­tig, au­then­tisch und schön. Der Sprung in der Kan­ne, die Wöl­bung des Hol­zes, das Laub auf dem Stein, das Sprit­zen der Tin­te. Das spie­gelt die bud­dhis­ti­schen Tra­di­tio­nen wi­der, de­nen zu­fol­ge uns Weis­heit zu­teil­wird, wenn wir Frie­den mit un­se­rem feh­ler­haf­ten We­sen schlie­ßen. Das Ak­zep­tie­ren un­se­rer Un­voll­kom­men­heit ver­la­gert den Schwer­punkt dort­hin zu­rück, wo er lie­gen soll­te: auf der kon­ti­nu­ier­li­chen Wei­ter­ent­wick­lung. Eine sol­che Geis­tes­hal­tung wan­delt Land­mi­nen zu Weg­wei­sern um. In­dem es die Ver­gäng­lich­keit ze­le­briert, das uni­ver­sel­le Prin­zip des ewi­gen Wan­dels, ver­ficht Wabi-Sabi den Weg der Nach­sicht, der end­lo­se Mög­lich­kei­ten der per­sön­li­chen Ent­wick­lung birgt.

Wenn wir ak­zep­tie­ren, dass wir nicht per­fekt sind und un­wei­ger­lich Feh­ler ma­chen wer­den, kann es wei­ter­ge­hen. Stel­len Selbst­op­ti­mie­rung und die per­sön­li­che Wei­ter­ent­wick­lung nicht auch eine Art Stre­ben nach Per­fek­ti­on dar? Es kommt ganz dar­auf an, wel­ches Ziel Sie sich set­zen. An­statt per­fekt oder bes­ser als die an­de­ren sein zu wol­len, soll­ten Sie nach Mög­lich­kei­ten Aus­schau hal­ten, die Ih­nen zu kon­ti­nu­ier­li­chem Wachs­tum ver­hel­fen. Wie W.L. Shel­don an­geb­lich einst ge­schrie­ben hat: «Es ist kei­nes­wegs edel, sei­nen Mit­men­schen über­le­gen zu sein; wah­rer Edel­mut be­steht dar­in, sei­nem frü­he­ren Ich über­le­gen zu sein.» Um das Wabi-Sabi-Denk­mus­ter wirk­lich für die per­sön­li­che Wei­ter­ent­wick­lung nut­zen zu kön­nen, hilft ein Blick auf die Kul­tur, der es ent­stammt. Die Ja­pa­ner ha­ben eine lan­ge Tra­di­ti­on, ihre Hand­werks­kunst auf mys­ti­sche Hö­hen zu brin­gen, ob es sich da­bei um die Schreiner‑, die Schmie­de- oder so­gar die Ver­pa­ckungs­kunst han­delt. Der Schwer­punkt liegt da­bei auf dem meis­ter­li­chen Kön­nen, nicht auf der Per­fek­ti­on. Meis­ter­haf­tes Kön­nen er­setzt die Idee von Per­fek­ti­on mit dem Be­stre­ben, sich mit­tels Übung und Hin­ga­be zu ver­bes­sern. Beim The­ma Fä­hig­keit kann es kei­nen Fix­punkt ge­ben. Auch die größ­ten Meis­ter blei­ben ihr Le­ben lang eif­ri­ge Schü­ler. Ihre Fä­hig­kei­ten ha­ben sich im Lau­fe der Zeit ent­wi­ckelt. Auch sie ha­ben ir­gend­wann an­ge­fan­gen, und ihre an­fäng­li­chen Be­mü­hun­gen wa­ren wo­mög­lich ge­nau­so un­be­hol­fen wie die uns­ri­gen, wenn wir es ver­su­chen wür­den. Stel­len Sie sich täg­lich ein paar klei­ne Fra­gen. Schau­en Sie, wo Sie sich ver­bes­sern kön­nen. Und dann ma­chen Sie dar­aus eine Auf­ga­be. Und mit den Auf­ga­ben und de­ren Be­wäl­ti­gung wächst un­se­re Er­kennt­nis. Er­kennt­nis ist ein be­deu­tungs­schwe­rer Be­griff in der Bi­bel. Da­mit ist nicht in ers­ter Li­nie In­for­ma­ti­on oder Wis­sen ge­meint, son­dern eine tie­fe Be­geg­nung und Ver­bin­dung. Er­kennt­nis Got­tes be­deu­tet, Gott nicht nur be­geg­net zu sein, son­dern auch in eine Be­zie­hung zu ihm ein­zu­tre­ten und durch die­se Be­zie­hung ver­än­dert zu wer­den. Wenn ich et­was er­kannt habe, bin ich nicht mehr der­sel­be. Wis­sen kann ich wie­der ver­lie­ren, bei Er­kennt­nis ist das nicht mög­lich. Wenn ich ein­mal et­was er­kannt habe, gibt es kei­nen Schritt hin­ter die­se Er­kennt­nis zurück.

Die Be­woh­ner der ja­pa­ni­schen Oki­na­wa-In­seln zum Bei­spiel ge­hö­ren zu den glück­lichs­ten und lang­le­bigs­ten Men­schen der Erde. Sie ha­ben den welt­weit höchs­ten An­teil Hun­dert­jäh­ri­ger, näm­lich fünf­zig pro hun­dert­tau­send Ein­woh­ner. Wenn sie nach ih­rem Ge­heim­nis ge­fragt wer­den, lau­tet für ge­wöhn­lich die Ant­wort: «Iki­gai». «Ihr Iki­gai ist die Schnitt­men­ge zwi­schen dem, was Sie gut kön­nen, und dem, was Sie lie­ben», schreibt der Au­tor Héc­tor Gar­cía. Des wei­te­ren: «Seit An­be­ginn der Zeit gie­ren die Men­schen nach Geld und Din­gen, wo­hin­ge­gen an­de­re im An­ge­sicht des un­er­müd­li­chen Stre­bens nach Ruhm und Geld schon im­mer gro­ße Un­zu­frie­den­heit ver­spürt und sich statt­des­sen auf Din­ge kon­zen­triert ha­ben, die ih­ren ma­te­ri­el­len Wohl­stand über­stei­gen. Im Lau­fe der Jah­re ist die­ses Phä­no­men mit­tels vie­ler un­ter­schied­li­cher Wor­te und Ge­bräu­che be­schrie­ben wor­den, doch kam man im­mer wie­der zu­rück auf die Sinn­haf­tig­keit ei­nes Le­bens.» In un­se­rem Stre­ben nach Glück las­sen wir an­schei­nend das Sinn­haf­te au­ßer Acht. Da­bei scheint es so zu sein, dass im Stre­ben nach Sinn­haf­tig­keit uns das Glück am ehes­ten zu­teil­wird. Vik­tor Frankl hat es fol­gen­der­ma­ßen for­mu­liert: «Das Glück lässt sich nicht ver­fol­gen; es folgt.» Wir ha­ben aus ers­ter Hand er­fah­ren, wie un­se­re sub­jek­ti­ve De­fi­ni­ti­on des Sinn­haf­ten sich mit der Zeit ver­än­dert hat. Oder schät­zen Sie noch im­mer die­sel­ben Din­ge wie Ihr zwölf­jäh­ri­ges Ich? Wahr­schein­lich nicht. Des­halb bleibt auch die Su­che nach Sinn eine dauerhafte.

 

GE­BET

Gott, gib mir die Ge­las­sen­heit, Din­ge hin­zu­neh­men, die ich nicht än­dern kann,
den Mut, Din­ge zu än­dern, die ich än­dern kann,
und die Weis­heit, das eine vom an­de­ren zu unterscheiden.
Ei­nen Tag nach dem an­de­ren zu leben,
ei­nen Mo­ment nach dem an­de­ren zu genießen.
Ent­beh­rung als ei­nen Weg zum Frie­den zu akzeptieren.
Die­se sün­di­ge Welt an­zu­neh­men, wie Je­sus es tat,
und nicht so, wie ich sie gern hätte.
Zu ver­trau­en, dass Du al­les rich­tig ma­chen wirst,
wenn ich mich Dei­nem Wil­len hingebe,
so­dass ich in die­sem Le­ben ziem­lich glück­lich sein möge
und im nächs­ten für im­mer überglücklich.
Amen.

 

(An­ony­me Alkoholiker)