Jeder Mensch wird früher oder später mit Leiden, Schuld und Tod konfrontiert. Die tragische Trias nennt der Psychiater Viktor Frankl diese Drei. An ihnen zerschellen alle oberflächlichen Antworten. Unweigerlich donnert eine Frage über alles herein: Lohnt sich das Leben noch? Gibt es einen Grund, an das Gute zu glauben, jetzt, wo mir so radikal Böses geschehen ist? In existenziellen Krisen trägt nicht mehr das bloße Gefühl allein, sondern die Wahrheitsfrage nach einem wirklich tragfähigen Grund stellt sich mit aller Wucht.
Deshalb lohnt es sich, bereits vorher zu fragen: Was genau zeichnet den Sinn meines Lebens aus? Warum ist er eine notwendige »Herzensressource«, die der Mensch so dringend braucht wie die Luft zum Atmen?
Teil des menschlichen Dramas ist die Tatsache, dass wir uns einen großen Teil dessen, was uns im Leben zustößt, nicht ausgesucht haben. Völlige Kontrolle ist und bleibt eine Illusion.
Viktor Frankl erkannte ausgerechnet im Leid des KZ den Sinn seines Lebens. Wie jeder, der in so unsagbares Grauen und Leid gerät, wurde er von quälenden Fragen überflutet. Warum gerade ich? Was ist der Sinn all dessen? Warum dieses unermesslich abgrundhafte menschliche Verhalten?
Für Frankl tat sich eine Perspektive auf, als ihm langsam dämmerte, dass nicht nur er Fragen an das Leben stellte, sondern das Leben selbst auch an ihn? Er hörte auf, mit der schrecklichen Situation im KZ zu hadern. Er verstand stattdessen seine Lage als Frage an ihn und suchte eine Antwort darauf. Er fand sie in dem Versuch, das Erleben in Auschwitz zu analysieren und Lehren für die Nachwelt daraus zu ziehen. Ihm wurde bewusst, dass das seine Verantwortung ist. Dieser Schritt brachte ihm im Grauen von Auschwitz die existenzielle Wende.
In einem treffenden Vergleich rechnet Frankl daher mit einer naiven Vorstellung von Selbstverwirklichung ab. Das Auge ist zum Sehen gemacht. In dieser Aufgabe erfüllt es seinen Sinn. Der Sinn des Auges ist nicht, sich selbst zu sehen. Das gesunde Auge sieht sich nicht selbst, es sieht etwas Anderes. Übertragen könnte man sagen: Der Sinn des Leben besteht nicht in der Selbstverwirklichung oder im „Glück“ an sich, sondern das Gefühl von Stimmigkeit. Selbstverwirklichung und vielleicht sogar Glück stellen sich ein, wenn man sinnvoll lebt, sie folgen. Sie sind aber nicht die Grundlage von Sinn. Denn bestünde sinnvolles Leben darin, immer die eigene Vorstellung vom Leben verwirklichen zu können, sähe es für die meisten Menschen auf diesem Planeten sehr schlecht aus. Was ist also sinnhaftes und sinnvolles Leben?
Das ist und bleibt wiederum eine alte Menschheitsfrage, bei der ich daher gerne den ebenso alten Sokrates ins Spiel bringen will. Er verbrachte seine Zeit auf Athens Marktplatz und diskutierte mit unterschiedlichen Gesprächspartnern. Ein wiederkehrendes Thema ist das gelungene Leben. Einer seiner Gesprächspartner, Kallikles, vertat die Auffassung, der Natur des Menschen entspreche es, seine Impulse durchzusetzen und ohne Behinderung zu befriedigen und zu verwirklichen. Süffisant entgegnet ihm Sokrates: Der glücklichste Mensch müsste demnach jemand sein, der die Krätze hat. Denn beständig würde ihn der Juckreiz danach verlangen lassen, sich zu kratzen und unmittelbar könnte der Mensch dem Verlangen nachkommen.
Im Gegensatz dazu zeichnet Sokrates das Ideal des tugendhaften Lebens, eines Lebens, das sich am Guten orientiert. Das sei noch wichtiger als die eigenen Wünsche. Sokrates’ Philosophie wurde auf die harte Probe der Realität gestellt. Im Jahre 399 v. Chr. wird er wegen angeblicher Gottlosigkeit und Gefährdung der Jugend zum Tode verurteilt. Seine Freunde versuchen, Sokrates zur Flucht zu drängen. Aber Sokrates erachtet den Gehorsam gegenüber den Überzeugungen und dem Guten, für das er eintrat, für höher als das persönliche Überleben.
Die Philosophie des Kallikles scheint demgegenüber heute weit verbreitet. Wir leben in einer Kultur, in der es selbstverständlich ist, nach persönlicher Erfüllung und der Verwirklichung der eigenen Träume zu streben. Doch in einem erfüllten Leben geht es um mehr, als um die persönliche Großartigkeit. Es geht um Ziele, die außerhalb meines Selbst liegen. Wer Sinn in seinem Leben und Arbeiten entdecken will, kommt an der entscheidenden Frage nicht vorbei: Für welchen höchsten Wert bin ich bereit, zu arbeiten, zu leiden, zu leben und im schlimmsten Fall sogar zu sterben?
Das bedeutet, sein Leben in den Dienst von etwas Höherem zu stellen, die Bereitschaft, Opfer zu bringen; seine Existenz in Dankbarkeit etwas Größerem zu widmen; oder, wie es Friedrich Nietzsche etwas gefälliger formulierte:
»Hat man sein WARUM des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem WIE?«