Die Daseinsfreude, die Dankbarkeit, am Leben zu sein, die tief gehende Ergriffenheit, ein Teil dieses wundersamen Kosmos zu sein — all dies ist nicht so leicht zu haben, da wir stark in Anspruch genommen sind, alles hinzukriegen, was unser Erdendasein halbwegs sicher und angenehm machen soll. Viele Menschen auf diesem Planeten und auch hierzulande haben objektiv Anlass zur Sorge um den nächsten Tag haben. Viele aber, die ein hinlängliches Auskommen haben, sind wohl mehr von Sorgen gepeinigt, als es sein müsste.
Immerhin ist es ein menschliches Vermögen, dass wir (ein wenig) Einfluss nehmen können auf uns selbst – gemäß dem Sprichwort: ‚Du kannst nicht verhindern, dass die Vögel der Besorgnis über deinem Kopf kreisen. Aber du kannst verhindern, dass sie sich in deinem Kopf ein Nest bauen.‘ Es sollte doch möglich sein, in unserem Sein und Streben die kleine Erleuchtung zu befördern. Dass es mir hin und wieder und immer wieder gelingt, mit dem Mysterium meines Daseins so in Kontakt zu kommen, dass mein Lebensgefühl und der Kompass meiner Lebensführung davon nicht unberührt bleiben.
Erstens ist da die Wundersamkeit und Würde des gelebten Augenblicks.
Die allermeiste Zeit unseres Wachlebens verbringen wir zweckgebunden. Ich tue etwas, um zu … — Wenn ich mit dem Fahrrad zum Sport unterwegs bin, dann ist das Fahrradfahren nur ein Mittel, um zum Ziel zu kommen. Nur ein Mittel, um zu … — Es kommt drauf an, die Fahrt möglichst schnell, reibungslos und kraftsparend hinter mich zu bringen, damit „das Eigentliche“ erreichbar wird. Ich empfinde das Fahrradfahren nicht als wertvollen Augenblick meines Lebens, das um seiner selbst willen wundersam erlebt und ausgekostet werden kann.
Die Würde des Augenblicks wird erst erkennbar, wenn ich mir vor Augen halte, dass ich vor Zeiten, als Fünfjähriger, noch nicht die Balance halten konnte und, dass ich es irgendwann nicht mehr können werde aus Altersgründen.
Wenn ein junger Mensch sich zu einem Studium entschließt mit der Haltung: „Ich will da möglichst schnell durch“, dann wird das jahrelange Studium zum bloßen Vorbereitungsstadium für das Eigentliche herabgewürdigt. Wenn die Studierzeit nicht auch um ihrer selbst willen gelebt und ausgekostet werden kann mit all ihren wundervollen Besonderheiten, die so wahrscheinlich nur einmal im Leben erfahren wird, dann ist der Möglichst-schnell-durch-Student ein armer Wicht — oder mit Goethe gesprochen: ‚ein trüber Gast auf Erden‘. Womöglich wird er irgendwann seinen erstrebten Beruf nur ausüben, um sich dadurch »das Eigentliche« zu ermöglichen. — Und was ist »das Eigentliche«? Der Zweck-Modus verewigt sich und erwürgt das bloße Sein.
Zweitens ist da die Lehre von der Achtsamkeit. Wenn es hin und wieder gelingt, im gelebten Augenblick den Zauber zu spüren, dann verändert sich dein Leben – nicht erst in den großen Momenten des Lebens, in den unvergesslichen Sternstunden, sondern auch und gerade in den völlig unspektakulären Momenten des alltäglichen Lebensvollzuges. Ob Eichendorff so etwas im Sinn hatte, als er die berühmten Zeilen dichtete? ‚Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort!‘
Ganz im selben Sinne plädiert Peter Handke für eine achtsame Geduld in alltäglichen Momenten: Wenn eine Verkäuferin lange braucht, um sorgsam eine Vase einzuwickeln, dann sei bewusst, dass dies ein Stück gemeinsam verbrachter Lebenszeit ist und vielleicht gelingt es dir, diesen Moment auszukosten. Immerhin steht dir ein Wunder der Schöpfung gegenüber! Wenn diese Wartezeit mühsam und mürrisch ertragen wird, um endlich weiterzukommen, ist sie als Lebenszeit entwertet, verloren, missachtet.
Dieser Mechanismus hat einen nahen Verwandten, mit ähnlicher Wirkung. Ich nenne ihn die Sollwert-Schraube. Damit ist gemeint, dass ich alles, was in meinem Leben »gegeben« ist, alles, was passiert, alles, was in mir, an mir und um mich herum geschieht — dass ich alles, was ist, sogleich kontrastiere mit dem, was sein soll oder sein sollte. Auf jeden Ist-Zustand wird, in einem geistigen Automatismus, ein Soll-Zustand draufgeschraubt.
Dies ist eine erstaunliche Fähigkeit und Eigenart des Menschen, dass er zeitgleich mit dem Wahrgenommenen auch die Abweichung vom Soll entdeckt. Diese Diskrepanzwahrnehmung ist ein Segen und ein Fluch. Ein Segen insofern, als sie uns befähigt und motiviert, Fehler zu korrigieren, aus dem Vorhandenen etwas Mögliches und Wünschenswertes zu machen, die Welt und das Leben als etwas aufzufassen, was nach Gestaltung verlangt.
Ein Fluch: Wenn ich ständig die Diskrepanz von Ist und Soll vor Augen habe, dann generiert dies ein defizit-orientiertes Lebensgefühl. Wie soll ich das schöne Bild genießen, wenn mir vor allem auffällt, dass es schief hängt? Okkupiert vom Defizitären, bin ich außerstande, das, was ist, als etwas Wertvolles oder Interessantes zu empfinden. Das kann ich nur, wenn ich es zu würdigen weiß.
Auch eine kritische Würdigung, die nicht bloß lobhudelt, sondern an manchen Stellen nachdenklich etwas infrage stellt, ist ein ungeahntes Zaubermittel. Die oder der Angesprochene spürt sofort: Da hat mich jemand wirklich gesehen, hat sich mit dem, was mich umtreibt, was ich tue und leiste, wirklich auseinandergesetzt.
In diesem Wertequadrat überkreuzen sich die Entwicklungsrichtungen: Wer eher Gefahr läuft, nach rechts unten in eine augenblicksverliebte Tagträumerei abzurutschen, sollte die Qualität links oben (Zielstrebigkeit) erobern. Wer eher überintentional links unten gelandet ist, könnte/sollte die Qualität rechts oben anstreben.
Menschen, die eine schwere Krankheit überstanden haben, berichten häufig, dass sie das Leben als solches ganz neu und intensiver erleben, sich an kleinen Dingen freuen, von den ärgerlichen Widrigkeiten nicht mehr belagert werden — jedenfalls eine Zeit lang. Verglichen mit der Megasensation, am Leben zu sein, nehmen sich die Sorgen von vormals plötzlich läppisch aus. In den letzten Jahren ist viel zum »posttraumatischen Wachstum« geforscht worden. Im günstigen Fall kommen Menschen, die ein seelisches Trauma erlitten haben, reifer und weiser wieder heraus, als sie hineingegangen sind. Die Wertschätzung des Lebens nimmt zu, die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen, das Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit, aber auch der Ressourcen, damit umzugehen, und letztlich auch eine Vitalisierung der spirituellen Dimension.
Wäre es nicht möglich, so frage ich mich und dich, einen solchen Modus vivendi auch ohne schwere Krankheit und ohne seelisches Trauma zu erlangen?
GEBET
Herr, schenk uns Leben,
schenk uns Lebendigsein, Freude an allem, was ist,
Mut zum Aufbruch, Achtsamkeit für den Menschen neben uns,
Hoffnung auf ein gutes Morgen.
Gott, in unsicheren Zeiten suchen wir dein Vertrauen.
Schenke uns die Zuversicht,
dass wir die Herausforderungen bewältigen können.
Herr, schenk uns Leben.