Was man Individualisierung nennt, ist selbst schon in die Jahre gekommen. Doch es hat gebraucht, bis sie unsere Gesellschaft in ihrer Breite von Grund auf verändert hat. Vielleicht sind wir Menschen des 21. Jahrhunderts, die ersten, für deren Lebensführung Institutionen keinen nennenswerten Einfluss mehr ausüben. Wir sind so frei und ungebunden, wie es keine Generation vor uns je gewesen ist. Aber doch will sich das Glück nicht recht einstellen.
Eine neue Einsamkeit hat sich bereit gemacht, die ganz anders ist als die Art der Verlassenheit, die manchmal den Menschen der alten Zeit befiel. Die neue Einsamkeit ist grundsätzlicher: eine Art existenzielle Heimatlosigkeit und emotionale Isolation. Wir scheinen überfordert und verunsichert von der Aufgabe, Bündnisse des Zwangs durch Bündnisse des freien Willens zu ersetzen.
Wie weit die Vereinzelung vorangeschritten ist, sieht man am besten daran, wie selten es uns nur noch gelingt, uns mit einer Gemeinde, einem Verein oder einer Partei zu identifizieren und Zugehörigkeitsgefühle zu mobilisieren. Nicht, weil wir nicht wollen, sondern weil es uns immer ausgeschlossener erscheint, Selbstverwirklichung und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft miteinander zu vereinbaren. Die Zeit unverbrüchlicher Gemeinschaftsformen ist zu Ende.
Deren umfangreichste nannte man einmal Heimat. Und in ihr gab es noch einen äußerst haltbaren Kitt, der die Menschen zuverlässig in ihren Sozialbindungen hielt: die Tradition.
Die meisten Ursachen für die Veränderungen liegen außerhalb unserer Zuständigkeit: Die Tradition mit ihrer disziplinierenden Kraft auf den Menschen, erlahmt. Der äußere soziale Druck, der die Menschen einst noch in Beziehungen hineinpresste und verhinderte, dass einer ausscherte, hat deutlich nachgelassen.
Gleichzeitig haben aber der Wille und das Selbstbewusstsein erheblich zugenommen, Beziehungen aufzugeben, wenn sie die eigene Lebensqualität über Gebühr beeinträchtigen. Die Verantwortung für die Gestaltung der Sozialbeziehungen lastet immer mehr auf dem einzelnen Individuum.
Genauso zwiespältig sind die Lebensformen, die die alten Modelle abgelöst haben. Die Gefahr des verhassten Gefangenseins in einengenden Sozialnormen, und der Unterdrückung des eigenen Willens, wurden abgelöst von der Gefahr im Meer der Möglichkeiten verloren zu gehen, einsam zu bleiben.
Doch die neue Haltlosigkeit ist nicht unabwendbar. Es besteht die Chance, anstelle der alten Institutionen, neue Wahlverwandtschaften zu gründen. Das Konzept lautet mit einem Wort: Freundschaft. Freundschaft ist die Möglichkeit einer Vertrautheit, einer Geborgenheit, ohne jene alte Zwanghaftigkeit.
In einer Freundschaft kann es gelingen die persönliche Unabhängigkeit zu bewahren und gleichzeitig ein Leben mit anderen zu führen, die uns schützen und verbindlich sind. Das ist ein anspruchsvolles Konzept, keine Frage. Aber wir wissen heute viel besser um uns selbst, den anderen und schließlich alle möglichen Stimmungen und Schwingungen bescheid, die es zwischen Freunden geben kann. Die Ausgangsqualifikation hat sich dank unseres Wissens um die Psyche und Emotionen deutlich verbessert. Wir stehen Entwicklungen in unseren Freundschaften nicht mehr sprachlos gegenüber.
So verliert auch die bindungslose und haltlose Freiheit, in die wir entlassen sind, ihren Schrecken. Die neue Freiheit ist auch eine Freiheit zur Freundschaft. Die traditionelle Lebensweise hatte wenig Raum für wahre Freundschaft. Zu viel Verpflichtung und Zwang war in ihr. Die neue ungebundene Freiheit hingegen macht es möglich, jenseits aller Schuldigkeiten Beziehungen zu errichten. Erst jetzt, da Sozialbeziehungen von anderen Aufgaben entrümpelt sind, können aus der Angst vor der Leere und Einsamkeit neue Beziehungen nach neuen Maßstäben gestaltet werden. Die sind auf ganz andere Weise erfüllend.
Es ist ein seltenes Glück, wahre Freunde zu finden, aber eine hohe Kunst, sie sich zu bewahren, wenn man sie gefunden hat. Dies gilt um so mehr in Zeiten, die uns einsam machen und Freundschaften noch mit hohen Erwartungen überladen. Die neue Freundschaft ist kein Allheilmittel für sämtliche Nöte von uns modernen Individualisten und braucht das auch gar nicht zu sein. Wahre Freundschaft ist immer zweierlei: Ort der Sicherheit und der Leichtigkeit. Denn erst da, wo die ernsthafte Sorge um den anderen ein dauerhaft tragfähiges Element einer Beziehung wird und erst da, wo eine gewisse Beziehungssicherheit herrscht, kann eine Freundschaft auch ganz ungezwungen, leicht und locker sein. So kann sie zu einem erfüllten Leben massiv beitragen.
Die Hürde ist hoch – zugegeben. Aber sie ist zu meistern. Wir haben das Zeug dazu.