Grab­stein

Ver­liert man sich für ei­nen Spa­zier­gang auf ei­nen Fried­hof und wirft da­bei ei­nen Blick auf die zahl­lo­sen Grab­stei­ne, so stellt man fest, dass sich am Ende das Le­ben ei­nes Men­schen auf ein Ge­burts­da­tum, ei­nen Strich und ein Ster­be­da­tum re­du­ziert. Das Le­ben nahm sei­nen An­fang, ein Strich, das Le­ben en­de­te. In die­sem Strich ist al­les zu­sam­men­ge­fasst, was Men­schen er­run­gen, er­lit­ten, er­hofft, er­träumt, sich auf­ge­baut ha­ben und, was auch manch­mal un­ter ih­ren Hän­den zer­brach. Auf die­sen Strich kommt es an. Dar­auf, wo­mit wir ihn fül­len. Was un­ser Le­ben aus­ma­chen soll und der Grab­stein, der kann da­bei eine wirk­lich gute Hil­fe­stel­lung sein. 

 

‚Me­men­to Mori‘ lau­tet ei­ner der Klas­si­ker christ­li­cher Spi­ri­tua­li­tät: Mensch be­den­ke, dass du ster­ben musst, auf das du Wei­se wirst. Nur mit die­ser Weis­heit tun wir uns im All­tag hin und wie­der ziem­lich schwer. Den Blick fo­kus­siert auf das aus­ge­rich­tet zu las­sen, wor­auf es im Le­ben an­kommt, wo­für es sich zu le­ben lohnt und was es am Ende wert ge­we­sen ist, sich da­für auf­zu­rei­ben. 

Eine klei­ne Übung, in der ein Grab­stein eine ent­schei­den­de Rol­le spielt, kann da eine gute Hil­fe sein. Stell dir also vor, du wan­derst über ei­nen Fried­hof und lässt dei­nen Blick über die Grab­stei­ne schwei­fen. Auf die­sen Grab­stei­nen fin­dest du nicht mehr al­lein ei­nen Na­men, das Ge­burts- und Ster­be­da­tum, son­dern ei­nen wei­te­ren Satz. Die­ser Satz bringt zum Aus­druck, wo­für die Leu­te sich in­ves­tiert und auf­ge­rie­ben ha­ben. So liest du zum Bei­spiel: Hier ruht Anna S., die ihr Le­ben dem Kampf ge­gen Ängs­te wid­me­te. Auf ei­nem wei­te­ren fin­dest du: Hier liegt Mi­cha­el M., der sein Le­ben lang da­mit kämpf­te, we­nigs­tens ein paar Kilo ab­zu­neh­men. 

So mar­schierst du wei­ter, gehst an un­zäh­li­gen Grab­stei­nen vor­bei und liest auch auf ih­nen, wie Men­schen ver­sucht ha­ben, mit al­ler En­er­gie und Kraft un­gu­te Ge­füh­le, ne­ga­ti­ve Ge­dan­ken oder auch schlech­te Kör­per­emp­fin­dun­gen sich vom Leib zu hal­ten. Du über­legst dir, wie viel En­er­gie, wie viel Ar­beit, wie viel Mühe die Men­schen für die­se An­stren­gung auf­ge­bracht ha­ben. Jetzt über­le­ge dir, wie viel En­er­gie du selbst im­mer wie­der auf­bringst, um Ne­ga­ti­ves und Schwie­ri­ges von dir selbst fern­zu­hal­ten und aus dei­nem Le­ben zu schie­ben. Den­ke auch ein­mal dar­über nach, wel­cher Satz auf dei­nem Grab­stein ste­hen wür­de, wenn du wei­ter­hin alle En­er­gie, alle Mühe da hin­ein in­ves­tierst, das zu ver­mei­den, was sich an Ne­ga­ti­vem in dei­nem Le­ben, in dei­nem Emp­fin­den und in dei­nen Ge­dan­ken an­ge­staut hat. 

Jetzt über­le­ge dir, was wür­de auf dei­nem Grab­stein ste­hen, wenn du all die­se Kämp­fe fal­len las­sen und auf­ge­ben wür­dest. Was wür­de auf dei­nem Grab­stein ste­hen, wenn du all dei­ne Am­bi­tio­nen, dei­ne En­er­gie und dei­ne Lei­den­schaf­ten für das ein­set­zen wür­dest, was dir wirk­lich wich­tig und wert­voll ist im Le­ben? Wel­cher Satz wür­de dann zu­sam­men­fas­sen, wo­für du dein Le­ben ge­nutzt, in­ves­tierst und auf­ge­bracht hät­test? 

Die­se Übung kann da­bei hel­fen, den Blick wie­der zu fo­kus­sie­ren auf das, was mir wirk­lich wich­tig ist im Le­ben, was mei­nen Über­zeu­gun­gen und Wert­vor­stel­lun­gen ent­spricht. Ich kann wie­der be­gin­nen, mir kon­kre­te Schrit­te zu über­le­gen, wie ich mich dem nä­he­re und wie ich das in mei­nem Le­ben in­ten­si­vie­ren kann. 

An­ge­nom­men, mir ist So­li­da­ri­tät be­son­ders wich­tig. In wel­chen Mo­men­ten er­le­be und spü­re ich, dass ich Men­schen Halt und Bei­stand ge­ben kann. Was kann ich in mei­nem Le­ben tun, um sol­che Mo­men­te zu in­ten­si­vie­ren und zu för­dern. Wo kann ich mich zum Bei­spiel zu­sätz­lich eh­ren­amt­lich en­ga­gie­ren, da­mit die­ser Wert in mei­nem Le­ben mehr Raum er­hält? 

Ne­ga­ti­vi­tät und auch Ängs­te kön­nen wir nicht aus un­se­rem Le­ben strei­chen. Aber wie al­les an­de­re kom­men und ge­hen sie. Nur wenn ich mich dar­auf ver­stei­fe, die­se Din­ge um je­den Preis in mei­nem Le­ben ver­mei­den zu wol­len, dann be­fin­de ich mich ir­gend­wann in ei­ner un­gu­ten Spi­ra­le aus Angst vor der Angst. Dann wer­de ich ein Ge­trie­be­ner und zwar nicht mei­ner Über­zeu­gun­gen, son­dern all mei­ner Schat­ten­sei­ten und Ab­grün­de. 

In die­sem Sin­ne kön­nen der Tod und Grab­stein gute Hel­fer sein, dass ich mei­nen Aus­flug auf die­se Erde nicht un­ge­nutzt ver­strei­chen las­se, son­dern dass ich ne­ben mei­ner hun­dert­pro­zen­ti­gen To­des­wahr­schein­lich­keit am Ende auch ein hun­dert­pro­zen­ti­ges, ech­tes Le­ben in An­griff ge­nom­men habe.