Schwester Prejean ist der kirchliche Beistand, den sich Poncelet gewählt hat und sie begleitet ihn auf diesem letzten Weg, wie sie ihn die Tage zuvor begleitet hat: mit unglaublicher Liebe.
Dabei hat sie ihm nichts erspart. Bei ihr kam er nicht durch mit seinen vielfältigen Schuldabweisungen; sie forderte Respekt ein – einfach weil jeder Mensch Respekt verdient; sie lässt sich auch nicht täuschen von seinem höhnisch-überheblichen Geschwätz, das doch Angst und Verletzung preisgibt.
Mit der Art, wie sie ihm begegnet, konfrontiert sie Poncelet mit der Botschaft Jesu, die den Wert eines Menschen nicht an seinen Taten misst. Zunächst kann er ihrer (und Gottes) Liebe nicht trauen, belügt sich selbst mehr als alle anderen. Von Einsicht und Reue keine Spur. Es dauert lange und braucht viel Zuspruch, bis Matthew Poncelet es wagt, sich mit seiner Tat und seiner Schuld auseinander zu setzen. Am Ende kann er weinen, über das, was er getan hat, über sich selbst, und die Liebe die ihm in der Ordensschwester begegnet: „Typisch für mich, dass ich erst sterben muss, um Liebe zu empfinden.“ Im Hinrichtungsraum, festgeschnallt auf dem Exekutionstisch wie an einem Kreuz, kann er den Eltern der Opfer in die Augen sehen und sie um Vergebung bitten.
Es ist ein Film über, bzw. gegen die Todesstrafe. Das auch, ja. Aber mehr noch ist es ein Film über menschliche Schuld und fehlendes Schuldbewusstsein. Er zeigt die Zerrissenheit, die aus der Verdrängung von Schuld resultiert. Schonungslos wird auch deutlich, wie schmerzlich die Selbsterkenntnis ist. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld erspart keine Konsequenz. So ist denn der Film auch kein fauler Kompromiss oder Ausweg aus der Verantwortung, sondern er zeigt die Bedingungen, unter denen die Übernahme von Verantwortung erst möglich wird. Schwester Helen verkörpert diesen „Maßstab für Schuld“– die Liebe, und ermöglicht Poncelet damit, seine Tat zuzugeben und über sich selbst zu weinen. Das aber lässt ihn erst wieder menschlich werden und weist auf den inneren Zusammenhang der Würde des Menschen und seiner Fähigkeit zu Schuld und Verantwortung. Weil für Schwester Helen Schuld zuletzt immer eine Verfehlung gegen Gott ist, kann sie Poncelet nach seinem Geständnis mit „Sohn Gottes“ titulieren: Er, der sich nur als „Hurensohn“ kannte, hat sich „versöhnen lassen“. Die einzige Bedingung unter der wir eigene und fremde Schuld zulassen und tragen können ist die Liebe. Verkörpert wird sie in der Person der Schwester Helen, aber es wird deutlich, dass der Grund für ihre Liebe die Menschenliebe Gottes ist.
Die Erfahrung und der Umgang mit Schuld sind Kennzeichen echter Religion. Persönlich verantwortete Schuld gehört nach alttestamentlicher Vorstellung zur realen Existenz des Menschen.
Nachdem Adam und Eva aus dem Paradies verbannt wurden, ist Gottes erste Tat eine absolut liebevolle: „Gott, der HERR, machte für die beiden Kleider aus Fell und legte sie ihnen an.“ (Gen 3,21) Obwohl ihn der Mensch hintergangen hatte, hielt Gott an seiner Liebe zu ihm fest. Die Tat des Menschen hatte zwar Konsequenzen – Vertreibung aus dem Paradies – aber sie änderte nichts an Gottes Haltung zu seinem Geschöpf. Ähnlich sieht es aus in dem Bruderdrama zwischen Kain und Abel. So spricht Gott zum Brudermörder: „Ruhelos musst du von Ort zu Ort ziehen!“ „Meine Strafe ist zu hart – ich kann sie nicht ertragen (…) Heimatlos werde ich von nun an umherirren, und wenn mich jemand findet, wird er mich umbringen!“ „Damit dies nicht geschieht“, sagte der HERR, „lege ich Folgendes fest: Wer dich tötet, wird dafür siebenfach bestraft werden!“ Er machte ein Zeichen an Kain, damit jeder, der ihm begegnete, wusste: Kain darf man nicht töten. Dann verließ Kain die Nähe des HERRN und wohnte im Land Nod (»Land des ruhelosen Lebens«), östlich von Eden.“ (Gen 4,12b-16). Auch hier gilt erneut: Kains Tat fordert Konsequenzen, ändert aber nichts an der liebenden Haltung Gottes.
Gott verachtet die Sünde, aber liebt den Sünder. Gott ist die menschliche Untat zuwider. Den Menschen selbst, sein Geschöpf allerdings könnte er niemals verachten. Denn Gottes Liebe zu ihm ist nicht abhängig von seinen Taten.
Offenbar gehört auch die Verdrängung von Schuld und die Schuldübertragung zur realen Existenz des Menschen und scheint ein menschliches Bedürfnis zu sein, das von Kindesbeinen in ihm steckt. Das Alte Testament problematisiert diese Haltung in den Figuren von Adam und Eva und Kain und Abel. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld gehört deshalb wesentlich zur religiösen Praxis des Volkes Israels. Ein großer Teil der Geschichte des Bundes- und Gottesvolkes setzt sich mit der Frage auseinander, wie vor Gott Versöhnung und Heil zu erlangen ist. Das ist nicht möglich ohne die Bewusstwerdung der eigenen Schuld. In den Evangelien ist die Vorstellung von Schuld und Sünde ganz und gar geprägt vom Handeln Jesu. Er hebt die gemeinschaftszerstörende Kraft der Sünde auf , indem er mit „Zöllnern und Sündern“ isst und trinkt. (Lk 5, 27 ff.) Er erkennt die krankmachende Kraft der Sünde und heilt, indem er Menschen von ihrer Sünde und ihrem Gebrechen befreit (Mk 2, 1 ff). Und er ermöglicht angstfreie Auseinandersetzung mit eigener Schuld, indem er Umkehr und neue Wege eröffnet. Aus christlicher Sicht kann der Mensch nur mit seiner Schuld fertig werden, wenn er um das Versöhnungshandeln Gottes weiß. Das sind die Eckpunkte wirklicher Umkehr: die Schulderkenntnis auf der einen und der Glaube an Gottes erbarmendes Handeln auf der anderen Seite.
Seit Jahrhunderten schon gilt die römische Göttin Iustitia als Symbol der Gerechtigkeit. Die Waage in ihrer Hand versinnbildlicht das Abwägen von Recht und Unrecht. Das Schwert in ihrer anderen symbolisiert die Vollstreckung des Urteils als auch den Schutz der Freiheit und des Rechts. Die Augenbinde, die sie in manchen Darstellungen trägt, symbolisiert ihre Neutralität gegenüber den Beteiligten.
Iustitias Götterbildnis stellt den Inbegriff der Gerechtigkeit dar, doch mangelt es ihr an dem, was den Menschen fehlbar macht: der Menschlichkeit. Nach Stefan Liebig beschreibt Gerechtigkeit „einen Idealzustand, der sich durch drei Merkmale auszeichnet: (…) Gleichbehandlung, Unparteilichkeit und Berücksichtigung individueller Anrechte“. Demnach ist das Stadium der vollkommenen Gerechtigkeit ein Ideal, das in der Gesellschaft angestrebt, aber nie völlig erreicht wird. Grund dafür ist die Fehlbarkeit des Menschen. Irrtümer und Zweifel begegnen ihm tagtäglich, geben ihm aber gleichzeitig die Möglichkeit zur Selbstreflexion. Durch diese kann der Mensch Situationen kritisch beurteilen und sein Handeln anpassen, um dem Ideal der Gerechtigkeit in Zukunft näher zu kommen.
DAS OPFERLAND MEIDEN – bei persönlichen Verletzungen
Werde ich gekränkt, dann fühle ich mich ratlos, ohnmächtig und dem Übeltäter hilflos ausgeliefert. Ich bedauere und bemitleide mich. Ich ärgere mich maßlos über das widerfahrene Unrecht und mache den anderen oder das Schicksal für mein Elend verantwortlich. Walter Kohl prägt für dieses Lebensgefühl das Bild vom »Opferland«. Dieses ist „ein Hort des Unfriedens und der Knechtschaft, der Abhängigkeit, der Ohnmacht und der Fron“. Und Kohl betont: „Vor jedes dieser schlimmen Worte sollte man eigentlich immer ein ‚gefühlt‘ setzen“, da es ausschließlich ein innerer Ort ist. „In Momenten der Verzweiflung, des Schmerzes und der Einsamkeit scheint Opferland das einzige Asyl zu sein, das bedingungslos offensteht.“ Im Opferland bleibe ich in der Rolle der Anklage und halte den anderen in Schuldhaft. Wenn ich mich als Opfer des anderen oder der Umstände sehe und meine, daran nichts ändern zu können, dann ‚befreit‘ mich diese Einstellung von der Notwendigkeit , mein Leben so zu gestalten , wie ich es will . Dann ‚befreit‘ mich die Opferrolle von meiner Freiheit, die eben immer auch herausfordernd und ängstigend ist. Ich bin mehr Zuschauer oder Zuschauerin meines Lebens als Akteur oder Akteurin.