Freund­schaft I

Die An­zahl der Men­schen, die wir ken­nen, ent­spricht nicht der An­zahl der ech­ten Freun­de, die wir tat­säch­lich ha­ben. Oder, um es mit dem bi­bli­schen Kö­nig Sa­lo­mo et­was dras­ti­scher zu sa­gen: Vie­le so­ge­nann­te Freun­de scha­den die nur, aber ein wirk­li­cher Freund steht mehr zu dir als ein Bru­der. Des­we­gen lohnt es sich, hin und wie­der ei­nen ehr­li­chen und klä­ren­den Blick auf die Be­zie­hun­gen zu wer­fen, die un­ser Le­ben prä­gen und tra­gen. 

Wenn es dar­um geht, Freund­schaft in der gan­zen Kom­ple­xi­tät in we­ni­gen Wor­ten auf den Punkt zu brin­gen, dann wür­de ich sa­gen: Freund­schaft be­deu­tet, ein­an­der zu ken­nen und be­kannt zu wer­den. Dass ich nicht län­ger vor dem an­de­ren ir­gend­ein so­zia­les Image pfle­gen muss, son­dern mich so zei­gen darf, wie ich bin: mit all mei­nen Ecken, Ma­cken und Kan­ten, als Män­gel­ex­em­plar und dass das auf Ge­gen­sei­tig­keit be­ruht. Dass am Ende ein gro­ßes Ja zum an­de­ren und eben auch vom an­de­ren zu mir steht. Freund­schaft be­deu­tet für mich auch, dass es dar­um geht, ein­an­der zu die­nen und zwar im bes­ten Sin­ne des Wor­tes. Dass ich mich an den Er­fol­gen des an­de­ren mit­freu­en kann, ohne heim­li­chen Neid zu pfle­gen. Dass ich in elen­den und lei­den­den Mo­men­ten an der Sei­te des an­de­ren ste­he, ohne ins­ge­heim Scha­den­freu­de zu pfle­gen, oder mich zu freu­en, dass es mich im­mer­hin nicht ge­trof­fen hat.  

Ganz gleich wel­che Be­zie­hun­gen wir in die­sem Le­ben wie auch im­mer pfle­gen, sie fär­ben auf uns ab. Das ha­ben Be­zie­hung nun mal so an sich, dass Men­schen, mit de­nen wir Zeit ver­brin­gen, uns prä­gen, dass sie et­was mit uns ma­chen. Es geht nicht dar­um, Men­schen zu ver­ur­tei­len; denn je­der Mensch ist vor Gott un­end­lich wert­voll, aber nicht je­der Mensch tut mir gut. Nur wenn ich ehr­lich und auf­rich­tig in mei­nen Be­zie­hun­gen bin, nur dann kann ich klar be­kom­men, wer in mei­nem Le­ben wirk­lich ei­nen gu­ten und dau­er­haf­ten Platz ha­ben soll­te und vor al­len Din­gen auch, wel­che rea­lis­ti­schen Er­war­tun­gen ich an die Be­zie­hun­gen stel­len kann, die mei­nen All­tag aus­ma­chen. Das schützt mich vor maß­lo­sen Ent­täu­schun­gen. Es macht mir auch deut­lich, in wel­che Be­zie­hun­gen ich mich in­ves­tie­ren und aus wel­chen Be­zie­hun­gen ich mich lie­ber zu­rück­zie­hen soll­te.  

Des­we­gen gilt es in je­dem Le­bens­ab­schnitt neu zu schau­en, wel­che Men­schen und Freund­schaf­ten wir mit­neh­men möch­ten, da­mit sie uns wei­ter be­glei­ten und wir mit ih­nen zu­sam­men wach­sen kön­nen, wel­che Men­schen wir zie­hen las­sen müs­sen, so schwer und schmerz­lich uns das auch fal­len mag und von wel­chen Men­schen wir uns auch be­wusst ver­ab­schie­den müs­sen, weil es eben nicht mehr passt. Da hel­fen kein Aus­wei­chen und kein Ver­ur­tei­len. Da hilft nur ein auf­rich­ti­ges und klä­ren­des Ab­schied­neh­men.  

Wirft man ei­nen ehr­li­chen Blick auf Jesu Be­zie­hungs­ge­fü­ge, dann wird man auch dort fest­stel­len, dass nicht alle Men­schen in sei­nem Um­feld gleich­be­rech­tig­ten An­teil an sei­ner Nähe hat­ten. Es wird ein­mal be­rich­tet, dass Je­sus ei­nen gro­ßen Freun­des­kreis hat­te: 72 Jün­ger min­des­tens, die mit ihm durch die Ge­gend zo­gen und mit ihm un­ter­wegs wa­ren. Aus die­sen 72 hat­te sich Je­sus al­ler­dings zwölf Apos­tel aus­er­wählt, die er in sei­nen in­ne­ren Zir­kel ge­holt hat­te. Un­ter die­sen gab es noch­mals drei, die eine be­son­de­re Be­zie­hung und Nähe zu ihm hat­ten: Ja­ko­bus, Jo­han­nes und Pe­trus; denn die­se drei wa­ren im Mo­ment sei­ner Ver­klä­rung da­bei und in dem Mo­ment kurz be­vor Je­sus ver­haf­tet und aus­ge­lie­fert wur­de, näm­lich im Gar­ten Geth­se­ma­ne. Dann gab es noch Ge­schwis­ter: Ma­ria, Mar­tha und La­za­rus. Auch bei die­sen drei­en wird deut­lich, dass Je­sus zu ih­nen eine be­son­de­re Be­zie­hung pfleg­te. Die­se drei stamm­ten nicht aus dem Zwöl­fer­kreis, wohl aber aus dem Kreis der 72.  

Bei Je­sus stellt man fest, dass es eine un­ter­schied­li­che Nähe und Di­stanz zu ver­schie­de­nen Men­schen gab. Wir brau­chen das. Wir brau­chen ei­nen gro­ßen Kreis von Men­schen, bei de­nen wir auf­ge­ho­ben sind. Wir brau­chen die­se in­ti­men und ech­ten Be­zie­hun­gen, die in un­se­rem Le­ben tra­gend und prä­gend sind. Das ist nichts Schänd­li­ches. Das ist nichts Ver­werf­li­ches. Das hat nichts mit Be­vor­zu­gung zu tun. Das hat mit ei­nem na­tür­li­chen Be­dürf­nis in uns zu tun, dass wir Men­schen brau­chen mit de­nen wir un­ter­schied­li­che Nähe und un­ter­schied­li­che Tie­fen die­ses Le­bens teilen.