„Wer keine Kraft zu einem sittlich guten und glückseligen Leben in sich selbst trägt, dem ist jedes Lebensalter eine Last; wer aber alles Gute von sich selbst verlangt, dem kann nichts, was das Naturgesetz zwangsläufig mit sich bringt, als ein Übel erscheinen. Dazu gehört in erster Linie das Alter; alle wünschen es zu erreichen; haben sie es dann erreicht, dann beklagen sie sich darüber; so inkonsequent und unlogisch sind sie, die Toren.“ (Cicero)
Kritisch setzt sich der Römer mit den landläufigen Urteilen seiner Zeit über das Greisenalter auseinander. Dass dieses die Kraft der Jugend vermissen lasse, werde aufgewogen durch vorzüglichere Geisteskräfte; auch von einem Mangel an Sinneslust könne keine Rede sein, denn mürrisches, zänkisches Wesen und Geiz dürfe man nicht in Abhängigkeit vom Alter sehen, sondern müsse es dem Charakter zuschreiben.
Ruhe, Weisheit und Unabhängigkeit von den Tagesgeschäften („abstractus a rebus gerendis“) bestimmen seinen Lauf. Aber Cicero beschreibt nicht, er entwickelt ein Ideal und gewährt damit zugleich einen Blick auf das wirkliche Leben, das eben so nicht beschaffen war, wie wir mit Blick auf den Ausspruch des römischen Komödiendichter Terenz vom Alter als Krankheit („senectus ipsa morbus“) vermuten dürfen.
Über eine institutionalisierte Altenpflege in der antiken Welt wissen wir nichts. Alte und Gebrechliche dürften der häuslichen Pflege überantwortet gewesen sein. Erst das Christentum brachte diese neuartige Einrichtung hervor, die sich zuerst in den byzantinischen Fremdenherbergen, den Xenodochien, manifestierte. Dort, oder auch Klöstern angeschlossen, finden sich häufig Gerokomeien (Altenheime). Nächstenliebe und das Erbarmen mit den Leiden der Armen, Gebrechlichen, Landfremden und Kranken nahmen einen zentralen Platz im Leben der christlichen Hospitalgemeinschaften ein.
Ordensgemeinschaften, Bruderschaften, Selbstbewirtschaftung und schließlich auch die Städte trugen zur Sicherung des christlichen Hospitals im europäischen Mittelalter bei.
Im 17. Jahrhundert setzt in ganz Europa eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen des Alterns, den Alterskrankheiten und dem Umgang mit ihnen ein. Viele gelehrte Abhandlungen entstehen. Dass Wein, vornehmlich der mäßige „Gebrauch alter Weine“, im Alter von großem Nutzen sei, ist eine Auffassung, die sich in der medizinischen Literatur bis ans Ende des 18. Jahrhunderts häufiger findet. So heißt es in einer „Medizinischen Praxis“ 1783 noch:
„Freie Luft, Bewegung, leichte und nährende Nahrungsmittel, mäßiger Gebrauch alter Weine und Munterkeit des Geistes können dem Tode oft lange vorbeugen“.
Das Bild des alten Menschen ist in unserer Gesellschaft immer noch weitgehend negativ gezeichnet. Unzulässige Verallgemeinerungen herrschen vor. Im Wesentlichen ist unser Altersbild durch Feststellungen von Abhängigkeit, Hilfsbedürftigkeit und Vereinsamung geprägt. Unsere Alten sind aber keineswegs durchweg krank, ‚altersblödsinnig’, bewegungsunfähig und pflegebedürftig. Viele von ihnen fühlen sich durchaus leistungsfähig und leistungsbereit, sie werden aber von der Gesellschaft mit anderen Erwartungen konfrontiert. Nach Erkenntnissen der Psychologie beeinflusst das Fremdbild (das Bild, das andere von einem haben) das Selbstbild und Selbsterleben in hohem Maße und bestimmt das Verhalten. Ein wahrer Teufelskreis, den zu durchbrechen eine ärztliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.
Es ist unsere Aufgabe, die durch moderne Medizin und Pflege „gewonnenen Jahre“, wie es Paul Imhof einmal genannt hat, auch zu lustvoll lebens- und erlebenswerten Jahren zu gestalten. Wahrlich keine leichte Aufgabe, nicht für Ärzte, nicht für unsere Gesundheits- und Sozialpolitiker, nicht für die Gesellschaft und nicht zuletzt für die Alten selbst.
Biblische Wertschätzung des Alters:
Lukas beginnt die Kindheitsgeschichte Jesu mit Zacharias und Elisabeth. Er beendet sie mit zwei anderen alten Menschen: mit Simeon und Hanna. In ihnen malt er das Bild von Weisheit, das gerade alte Menschen auszeichnet. Sie erfüllen, was das Alte Testament vom weisen Alten geschrieben hat:
»Bei den Wohlbetagten findet man Weisheit, und langes Leben ist Einsicht.« (Ijob 12,12)
Die beiden alten Menschen, Mann und Frau, erkennen in ihrer Weisheit das Geheimnis Jesu Christi. Sie sehen tiefer und sie bekennen das, was sie geschaut haben, vor allem Volk. So werden sie zu den ersten Verkündern der Frohen Botschaft über Jesus Christus.
Alte Menschen blicken tiefer. Sie sehen das Eigentliche. Sie sehen das Licht, auch wenn es verdeckt zu sein scheint. Simeon schaut das Licht in dem unscheinbaren, kleinen Kind. Und er sieht in diesem Kind das Wirken Gottes. Weise Alte verstehen das Leben. Sie erkennen die Zusammenhänge. Und sie schauen das Heile und Ganze mitten in den Bruchstücken unseres Lebens. Dem Simeon zur Seite ist Hanna. Sie ist eine Witwe von vierundachtzig Jahren. Die Zahl hat für Lukas symbolische Bedeutung. Hanna ist eine Frau, die die vier Elemente in sich vereint, die ganz auf dem Boden steht, die das Irdische ernst nimmt. Aber mitten im Irdischen ist sie offen für Gott. Acht ist die Zahl der Transzendenz, des Ewigen.
Alte Menschen haben oft eine höhere Fähigkeit, ihr Leben neu zu deuten und das Alte zu verarbeiten. Psychotherapeut Christian Müller meint aus Erfahrung, „dass im Alter eine größere Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion vorhanden ist als in früheren Jahren. Der ältere Mensch wird besinnlich, seine Tendenz zur Introversion verstärkt sich und somit auch gelegentlich seine Bereitschaft, Probleme von einer übergeordneten Warte aus zu betrachten“. Alte Menschen sollten sich nicht scheuen, ärztliche oder therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn sie an sich selbst leiden.
Zum Schluss nochmals Staatsmann und Philosoph Cicero:
„Sei es drum“, es ist allemal „doch für den Menschen wünschenswert, dass sein Lebenslicht, wenn es an der Zeit ist, ausgeblasen wird. (…) Das Greisenalter aber ist, wie bei einem Schauspiel, des Lebens letzter Akt. Hier erschöpft auf der Strecke zu bleiben, hier schlappzumachen, sollten wir vermeiden, und dies besonders, wenn dieser Schlussakt sich mit Zufriedenheit verbindet.“ (Cicero, 119)
GEBET
O Gott, Du weißt besser als ich, dass ich von Tag zu Tag älter
und eines Tages alt sein werde.
Bewahre mich vor der Einbildung, bei jeder Gelegenheit
und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen.
Erlöse mich von der großen Leidenschaft,
die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen.
Lehre mich, nachdenklich, aber nicht grüblerisch,
hilfreich, aber nicht diktatorisch zu sein.
Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann.
Erhalte mich so liebenswert wie möglich.
Lehre mich, an anderen Menschen unerwartete Talente zu entdecken,
und verleihe mir, o Gott, die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen.
Teresa von Avila (1515 – 1582)