Was der Mensch überzeugt als Erinnerung ausgibt, womit er einen Augenblick, eine Begebenheit, einen Sachverhalt meint, ist in Wirklichkeit eine Form von „storytelling“ – Geschichtenerzählen. Diese Arbeit vollzieht sich unaufhörlich in unserem Geist. Denn zu viele widerstreitende Gefühlsinteressen treiben uns an und um, als dass das Leben jemals ganz und gar annehmbar sein könnte. Die Arbeit des Geschichtenerzählens ist es, die Dinge immer wieder von Neuem so anzuordnen, dass sie für den Augenblick einen Sinn ergeben. So konstruieren wir Stories aus dem, was anderen oder einem selbst passiert ist. Wir sind alle Geschichtenerzähler. Wir können nicht aufhören zu erzählen, um einen Sinn zu finden.
Der Harvard-Professor Marshall Ganz schreibt, wir würden die Welt auf zwei Weisen interpretieren: Analyse und Erzählung. Während es bei der Analyse um Vernunft und Beweise gehe, würden wir unser Verständnis davon, wer wir sind, wohin wir gehen und warum durch Erzählung entwickeln. Erzählungen drückten eher aus, wie wir bestimmten Dingen gegenüber empfinden, als was wir über sie denken. „Die ‚Wahrheit‘ einer Geschichte liegt darin, wie sie uns bewegt,“ schreibt er. Diese Form der Interpretation hilft uns dabei, die Frage zu beantworten, warum wir handeln.
Besondere Bedeutung kommt der persönlichen Geschichte zu. Hier enthüllen wir, was für ein Mensch wir sind & was die Quellen unserer Werte ausmacht. Auf diese Weise wird es anderen ermöglicht, sich damit ein Stück weit zu identifizieren. Je mehr Details aus unserem Leben wir dabei erinnern und mitteilen, desto mehr können wir unser Gegenüber bewegen.
Allerdings gilt, dass wir uns zu jedem Zeitpunkt unterschiedlich erinnern. Der Vorgang des Erinnerns verändert ein Erlebnis, manchmal leicht, manchmal sogar ganz drastisch.
Wenn man Autofahren lernt, braucht es eine ganze Weile, bis alle unterschiedlichen Handlungen miteinander koordiniert sind und flüssig ablaufen: Kuppeln, Gas geben, Schalten, Lenken, Blinken, Bremsen, Schalten… erst mit der Zeit schaffen wir es, dies ohne großes Nachdenken zu tun und dann später nebenbei vielleicht sogar Unterhaltungen zu führen, zu essen, die Schönheit der Landschaft wahrzunehmen oder uns im Gewirr einer großen Stadt zu orientieren. Dies ist eine Form des Erinnerns: Vergangene Erfahrungen beeinflussen unser Verhalten in der Gegenwart – ohne dass wir uns überhaupt bewusst sind, dass unser Gedächtnis gerade aktiv ist. Man nennt dies „implizites Erinnern“.
In dem Moment, wo wir statt des Autofahrens aber zurück denken an die ersten Stunden in der Fahrschule, die dazugehörigen Emotionen und Körpergefühle wieder in uns wach werden lassen, sind wir uns bewusst, dass wir gerade etwas erinnern. Der Begriff hierfür ist „explizites Erinnern“.
Der Haken unbewusster Erinnerungen: Unser gesamtes Leben lang speichern wir implizite Erinnerungen. In den ersten 18 Lebensmonaten sogar ausschließlich. Diese impliziten Erinnerungen sind der Grund dafür, dass in uns Erwartungen darüber entstehen, wie die Welt funktioniert. Im Kern ist dies ein Prozess, dessen Sinn und Zweck es ist, uns sicher und außerhalb von Gefahren zu halten. Wenn wir etwas sehr Unangenehmes erleben, wird ein Teil der Geschichte (zunächst) implizit gespeichert: Ein kleines Kind, dem beim ersten Tauchversuch jede Menge Wasser in die Nase läuft, wird vielleicht Monate später beim Anblick eines Sees alles daran setzen, nicht hineingehen zu müssen.
Unterm Strich geht es vor allem um das, was wir die „Geschichte unseres Lebens“ nennen könnten – die Geschichte, die wir selbst darüber erzählen, wer wir sind und wie wir zu dieser Person geworden sind. Die Geschichte unseres Lebens bestimmt, welche Gefühle wir mit unserer Vergangenheit verbinden, sie bestimmt unser Verständnis dafür, warum die Bezugspersonen in unserem Leben sich so verhalten haben, wie sie es taten, und unsere Wahrnehmung davon, inwieweit unsere Erfahrungen unsere Entwicklung beeinflusst haben. Wenn wir unsere eigene Geschichte in sich folgerichtig und kohärent erzählen können, haben wir es geschafft, unserer Vergangenheit einen Sinn zu geben.
Indem der Mensch seiner Vergangenheit einen Sinn gibt, kann er sich von einer Last befreien, die anderenfalls ein generationenübergreifendes Erbe von Leid und unsicherer Bindung mit sich bringen könnte.
Erinnerung dient der Orientierung in der Gegenwart, um für künftiges Handeln Orientierung zu haben. Zukunft gehört systematisch zur Erinnerung. Das gilt auch für die Identität von Gemeinschaften, etwa für unsere Kirche, für unser Land und für Europa. Gerade deshalb brauchen sie alle eine zukunftsweisende Gedenkkultur.
„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“
So steht es auf einer Tafel der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, ein Zitat des jüdischen Gelehrten Baal Shem Tov. Erinnern und Gedenken ist eine unverzichtbare Eigentümlichkeit des jüdischen und christlichen Glaubens. Es geht um die vergegenwärtigte Erinnerung an Gottes heilsames Handeln. Das ist konstitutiv für beide. Das Gedenken an die Erfahrungen und Zeugnisse unserer „Väter und Mütter im Glauben“ schafft eine Generationen und Kulturkreise verbindende Identität. Und es vermag Widerstandskräfte zu wecken, Hoffnungen zu stärken und Gottvertrauen zu erneuern – gerade in schwierigen Zeiten. So gehört zur Liturgie des jüdischen Erntefestes die Vergegenwärtigung des alten Credos aus dem 5. Buch Mose:
„Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenigen Leuten und wurde dort ein großes und zahlreiches Volk. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu dem HERRN, dem Gott unserer Väter. Und der HERR erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm…“ (Deuteronomium 26, 5–8a)
Der Dank an Gott für die Fruchtbarkeit der Erde wird damit verbunden, geschichtliche Ereignisse zu rezipieren und die für Israel grundlegenden Heilstaten Gottes zu vergegenwärtigen. Und zwar so, dass jeder und jede Einzelne sich mit dieser Heilsgeschichte identifiziert und sie zur eigenen Geschichte macht.
In diesem theologischen Sinn des Gedenkens feiert unsere Kirche das Abendmahl. Die Gemeinde erinnert und vergegenwärtigt den Kreuzestod Christi als eine Heilsgeschichte zu unserem je eigenen Heil:
„Nimm hin und iss, Christi Leib für dich gegeben. Nimm hin und trink, Christi Blut für dich vergossen.“
Mit der existentiellen Vergegenwärtigung der Passionsgeschichte Jesu wird Christinnen und Christen eine Zukunftsperspektive eröffnet, die weit über das Diesseits hinausgreift. Die schon hier und jetzt unser Denken, Reden und Handeln mit nachhaltiger Hoffnung erfüllt. Deshalb heißt es in unserer Abendmahlsliturgie:
„Deinen Tod, o Herr, verkündigen wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“
GEBET
Guter Gott,
hilf uns Menschen in aller Welt, neue Wege zu finden,
um eine Welt ohne Tränen aufzubauen,
eine Welt ohne Hunger, ohne Durst,
eine Welt des Friedens.
Du schenkst uns überall auf der Welt die Kraft, neue Wege zu finden.
Mit dir überwinden wir Unterschiede und sehen das Einende.
Mit dir nehmen wir uns gegenseitig ohne Vorbehalte an.
Und Hand in Hand gehen wir voran ohne Angst.
Guter Gott, hilf uns Menschen in aller Welt, neue Wege zu finden,
um eine Welt aufzubauen, in der alle Frieden finden.
Amen.