Er­war­tung

Es gibt Si­tua­tio­nen, in de­nen muss ich Men­schen ent­täu­schen und manch­mal trifft es lei­der auch die, die ich be­son­ders gern habe. Muss ich mich des­we­gen jetzt schlecht füh­len oder muss ich manch­mal Men­schen, die mir wich­tig sind, auch aus gu­ten Grün­den enttäuschen?

Wirft man ei­nen Blick auf die Ge­schich­te Jesu, dann wird man im­mer wie­der bei­de Sei­ten fin­den. Es gibt die­se wun­der­ba­ren Aus­sa­gen Jesu, in de­nen sei­ne Zu­nei­gung zu den Jün­gern deut­lich wird. Wenn er ih­nen zum Bei­spiel sagt: „Ich neh­me euch nicht mehr Knech­te, son­dern Freun­de“ und „Ich lie­be euch so sehr, wie mich der Va­ter liebt“.

Aber der glei­che Je­sus kann sei­ne jün­ger voll­kom­men ent­nervt an­fah­ren, dass er es so satt ist, mit ih­nen un­ter­wegs zu sein, weil sie vor lau­ter Starr­sinn und Un­glau­ben im­mer noch nicht be­grif­fen ha­ben, wor­um es denn ei­gent­lich geht. Auch Je­sus ent­täuscht sei­ne Jün­ger am fort­lau­fen­den Band.

Nun wäre es na­tür­lich schön, wenn uns die Bi­bel ei­nen ein­fa­chen und kla­ren Rat­ge­ber lie­fern wür­de, wann wir den An­for­de­run­gen und Wün­schen der Men­schen zu ge­nü­gen ha­ben und wann wir ih­nen gu­ten Ge­wis­sens nicht ent­spre­chen müs­sen. Das tut die Bi­bel lei­der nicht. Was sie al­ler­dings wohl lie­fert, sind Ori­en­tie­rungs­hil­fen in die­sen Fra­gen. So ver­langt die Bi­bel von mir zu­nächst ein­mal eine grund­le­gen­de Hal­tung des Die­nens, ein Da­sein für den an­de­ren, ganz selbst­los und manch­mal auch auf ei­ge­ne Kos­ten. Dass, wenn ich Not sehe, wenn ich Be­dürf­nis­se wahr­neh­me, dass ich dar­auf re­agie­re und handle.

Zu­gleich gibt sie Kri­te­ri­en an die Hand, wann die­ses Ein­ge­hen dar­auf dran ist. Zum Bei­spiel, wenn es mei­ner Rol­le ent­spricht. Wenn ich Va­ter oder Mut­ter bin, wenn ich Chef bin und so Mit­ver­ant­wor­tung habe für Men­schen, die mir an­ver­traut sind, oder die mir un­ter­ste­hen. Dann kann ich nicht Bit­ten und An­lie­gen, die an mich her­an­ge­tra­gen wer­den, ein­fach igno­rie­ren. Wenn ich mich ganz frei ent­schei­den kann, dem Wunsch ei­nes an­de­ren nach­zu­kom­men oder nicht. Wenn ich rea­li­sie­re, dass kein Druck auf mir las­tet, auch dann ist eine gute Mög­lich­keit ge­ge­ben, dem Wunsch nach­zu­ge­ben, der an mich her­an­ge­tra­gen wird. Es lohnt sich auch, dann für an­de­re da zu sein, wenn ich mer­ke, dass das Ver­hal­ten, das von mir ein­ge­for­dert wird, mei­nen ei­ge­nen Über­zeu­gun­gen und Wert­vor­stel­lun­gen entspricht.

Men­schen nicht zu hel­fen, ih­ren Wün­schen nicht zu ent­spre­chen, kann eben­falls gute Grün­de ha­ben. Die Bi­bel sagt ziem­lich klar, dass wir nie­mals dann han­deln soll­ten, wenn es uns nur dar­um geht, den an­de­ren zu ge­fal­len oder, weil wir Angst vor ih­nen ha­ben. Bei­de Be­weg­grün­de sind näm­lich am Ende ziem­lich ego­man, weil wir näm­lich auf der ei­nen Sei­te fürch­ten, die Lie­be und Zu­nei­gung der an­de­ren zu ver­lie­ren, oder weil es uns dar­um geht, Sank­tio­nen zu ver­mei­den. Bei­de sind kei­ne red­li­chen und gu­ten Mo­ti­ve, an­de­ren Men­schen nach­zu­ge­ben. Auch soll­ten wir den Wün­schen an­de­rer dann nicht nach­ge­ben, wenn wir ih­nen da­mit ihre ei­ge­ne Ver­ant­wor­tung ab­neh­men. Wenn El­tern bei­spiels­wei­se ver­su­chen, ihre Kin­der stän­dig zu be­wah­ren vor den Kon­se­quen­zen des ei­ge­nen Tuns. Dann wer­den Kin­der nie Ver­ant­wor­tung ler­nen, dann wer­den Kin­der nie er­le­ben und er­fah­ren, was es heißt, für sich selbst und für die ei­ge­nen In­ter­es­sen ein­zu­ste­hen. Auch in die­sen Fäl­len ist es bes­ser, an­de­re zu ent­täu­schen. Ge­nau­so wie wir in all den Si­tua­tio­nen für an­de­re nicht han­deln kön­nen und ih­nen ein nein schul­dig sind, wenn wir fest­stel­len, dass das zu­tiefst ge­gen un­se­re ei­ge­nen Wert­über­zeu­gun­gen und ‑vor­stel­lun­gen wäre.

Die Fra­ge ist also am Ende nicht, ent­we­der Men­schen zu lie­ben oder sie zu ent­täu­schen, son­dern ein­zu­se­hen, dass bei­des zu­sam­men­ge­hört. Wenn ich wirk­lich Men­schen lie­be, wenn mir an ih­nen et­was liegt und an ih­rem Vor­an­kom­men in die­sem Le­ben, dann muss ich sie manch­mal ent­täu­schen, um ih­nen ei­nen wirk­lich gu­ten Dienst zu erweisen.