Die Überzeugung, die Bibel schreibe in Genesis 1,27 die alleinige Existenz von Mann und Frau fest, wird u. a. unterstützt durch die bis 2016 in der Einheitsübersetzung (EÜ) vertretende Übersetzung von „זָכָ֥ר וּנְקֵבָ֖ה בָּרָ֥א אֹתָֽם“ als „als Mann und Frau schuf er sie“. Doch seit der Neufassung der EÜ heißt es „als männlich und weiblich schuf er sie“. Diese Version ist näher am hebräischen Originaltext. So sieht Ruth Scoralick bei dieser adjektivischen Variante die Möglichkeit zur Interpretation der Textstelle als Merismus. Als Merismus bezeichnet man die Nennung zweier gegensätzlichen Begriffe, die keine zwei Kategorien schaffen, sondern das Spektrum zwischen den zwei Polen einschließen. Die These wird gestützt durch weitere mögliche Merismen in der Schöpfungsgeschichte: Dazu zählen u. a. die Schaffung von Licht und Finsternis, worin das Morgengrauen, wie das Zwielicht und die Abenddämmerung eingeschlossen sind (Gen 1,4) und von trockenem Grund und Meer, wozu das Sumpfgebiet, wie die Heidelandschaft und Watt ebenso gehören (Gen 1,9f.).
In der rabbinischen Literatur finden sich außerdem Auslegungen von Genesis, die das erste Menschenwesen als androgyn – folglich männlich und weiblich – verstehen, bevor es in seiner Geschlechtlichkeit differenziert wurde. Bei diesem Ansatz kann der nicht geschlechtlich kategorisierte Mensch als erster seiner Art als positiv herausgestellt betrachtet werden. Erst dann kommt es zu der geschlechtlichen Konnotation. Ganz zu Beginn steht also ein Urwesen, das weder noch und sowohl als auch ist. Damit wird jedem menschlichen Individuum zugesprochen von Gott gewollt und auch so von Gott gemeint zu sein, wie immer die Besonderheiten eines Menschen sein mögen.
Was ist jedoch, wenn wir die Frage umdrehen und uns fragen, was es über Gott aussagt, wenn der Mensch seinem Ebenbild nachempfunden und damit männlich und weiblich ist? Gott ist nicht der alte Mann mit weißem Bart, sondern ein Gott, der gleichzeitig sowohl männlich als auch weiblich und weder noch ist. Damit wird die Potenzialität Gottes aufgezeigt und ein Spektrum eröffnet: Der Mensch kann als Ebenbild Gottes vieles sein – weiblich, männlich, beides oder nichts davon. Gott steht jenseits jeder menschlichen Geschlechtszugehörigkeit.
Auch im Neuen Testament gibt es Anknüpfungspunkte für eine intergeschlechtliche Lesart. Im Kontext einer Diskussion mit Pharisäern über die Ehe erläutert Jesus, es gebe manche, die „von Geburt an zur Ehe unfähig [sind], manche [, die] von den Menschen dazu gemacht [wurden] und manche haben sich selbst dazu gemacht – um des Himmelreiches willen.“ Die Lutherbibel von 2017 übersetzt εὐνοῦχοι (eunuchoi) nicht mit „zur Ehe unfähig“, sondern mit „Verschnittene“.
Eunuchen befanden sich im Status sozialer Zwischengeschlechtlichkeit: Besonders interessant für die Auseinandersetzung mit Intergeschlechtlichkeit ist die kongenitale Gruppe. Im ersten Jahrhundert wurden diese im jüdischen Kontext saris khama (= Eunuchen der Sonne) genannt, da man ihre ambigen Geschlechtsmerkmale schon erkennen kann, sobald sie das Licht der Welt erblicken. Eunuchen bildeten eine Gruppe, die weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht vollständig zugeordnet wurde und somit einen Status sozialer Zwischengeschlechtlichkeit bildete. Kastrierte Eunuchen waren jedoch wegen des jüdischen Kastrationsverbot weitgehend ausgeschlossen, wohingegen für saris khama einige eigene Regelungen getroffen wurden, um ihre Situation zu ordnen und sie zu integrieren. Dies zeigt, dass im Entstehungskontext der Bibel bekannt war, mit Abweichungen von einem dadurch herausgeforderten binären Gesellschaftskonzept umzugehen und auch auf institutioneller Ebene Raum für Geschlechtsvarianz geschaffen wurde.
Auch die Taufe der ersten nicht-jüdischen Person in Apostelgeschichte Kap. 8 kann auf diese Weise interpretiert werden. Es handelt sich um einen äthiopischen Eunuchen, der Schrift lesend auf seinem Rückweg aus Jerusalem von Philippus aufgegriffen wurde, woraufhin letzterer ihm die Lektüre auslegte und ihn anschließend taufte. Die Bibelstelle wird häufig als Erfüllung von Jes 56,3−5 verstanden, da dort gottesfürchtigen Eunuchen ein Platz in der Gemeinde prophezeit wird:
»So spricht der HERR: / Den Eunuchen, die meine Sabbate halten, die wählen, was mir gefällt / und an meinem Bund festhalten, ihnen gebe ich in meinem Haus / und in meinen Mauern Denkmal und Namen. / Das ist mehr wert als Söhne und Töchter: Einen ewigen Namen gebe ich einem jeden.«
Durch die Taufe wird der Eunuch in die entstehende Gemeinschaft der ersten Christen aufgenommen. Da jener laut Apg 8 die erste getaufte nicht-jüdische Person ist und somit den Beginn der Ausbreitung des Christentums außerhalb des Judentums markiert, steht die Taufe des Eunuchen an einer prominenten Stelle im Neuen Testament.
Die Spuren von Geschlechtlichkeit jenseits eines binären Konzeptes treten in der Bibel vereinzelt immer wieder hervor. Sie zeugen von Gesellschaftskonzepten, die Raum für Geschlechtlichkeit neben Mann und Frau vorsahen.
Der Moraltheologe Walter Schaupp spricht im Blick auf die gesellschaftliche Akzeptanz von der „christlichen Pflicht zu Leidminderung und Inklusion (…) Wenn Menschen unter Zwangszuschreibungen leiden, wenn sie aufgrund bestimmter Merkmale marginalisiert werden, ergibt sich ein christlicher Imperativ, das Leid zu mindern und sie in die Gemeinschaft hereinzuholen.“ Die Idee ist also, dass es zur Aufgabe des Christentums gehört, für Leidminderung und Leidüberwindung einzutreten.
Schaupp leitet dieses Bild her aus der Exodus-Tradition, dem Auszug aus Ägypten. Demzufolge ist Gott ein von Leid und Unrecht befreiender Gott. Wenn man sich auf dieses Gottesbild bezieht und auf den darin enthaltenden Auftrag beruft, dann folgt daraus laut Schaupp: Wenn Menschen „aufgrund ihrer Geschlechtsmerkmale, ihrer Identität exkludiert werden, leiden, unterdrückt werden, dann ist das ein Motiv, sich als Christ dafür zu engagieren, das aufzuheben“.
GEBET
Herr, unser Gott,
Du hast jeden Menschen nach Deinem Bild erschaffen,
einzigartig und voller Würde.
Lehre uns, mit Deinen Augen zu sehen:
den Fremden, den Nahen, den Unbequemen.
Du hast jeden Menschen gewollt.
Lass uns einander mit offenem Herzen begegnen,
nicht vorschnell urteilen,
sondern zuhören und verstehen wollen.
Schenk uns den Mut, auch die zu achten,
die anders denken, anders leben oder glauben.
Hilf uns, Respekt zu leben –
in unseren Worten, in unseren Taten, in unseren Gedanken.
Lass uns sehen, was jeden Menschen besonders macht,
und hilf uns, diesen Wert zu erkennen und zu ehren,
in einer Welt, die oft vergisst,
dass jeder Mensch von Dir geliebt ist.
Amen.