‚Leben muss man das ganze Leben lang lernen’ (vivere tota vita discendum est), so Seneca schon in seinem Buch Von der Kürze des Lebens.
Jetzt ist noch zu lernen, langsamer zu werden, die Kräfte ökonomischer einzuteilen, mit sich allein zu sein, das ganze Leben zu durchdenken und den Tod vor Augen zu haben. Die Gekonntheit schwindet, die Möglichkeiten reduzieren sich, bis letztlich nur die eine übrig bleibt, die die bloße Wirklichkeit dieses Lebens wahrzunehmen.
In spezifischen Lüsten liegt das Potenzial des Alters und auch ein Grund dafür, es anzunehmen und zu lieben, es zu umarmen und zu genießen, denn, so Seneca, ‚es ist voller Freude, wenn man es zu nützen versteht’. Es ist vor allem die Lust des Gesprächs und die damit verbundene geistige Berührung, die sich im Alter noch intensiviert, da die Zeit dafür nun zur Verfügung steht und mannigfache Erfahrungen und Reflexionen auszutauschen sind.
Die Lust der Erinnerung, die eine begrenzte Rolle spielte, solange der Blick nach vorne gerichtet war, gewinnt eine unbegrenzte Bedeutung, sobald der Blick sich umkehrt; und vielleicht ist das Leben jetzt sogar ganz der Rückschau gewidmet: Im milden Abendlicht, in dem vieles anders aussieht als zuvor, wird eine Betrachtung des Selbst und seiner Existenz möglich. Selbst die melancholische Erinnerung kann nicht nur schmerzlich und bitter, sondern auch lustvoll und schön sein.
Pflegen lässt sich die Lust der Muße, die Zeit des bloßen Seins, gewidmet der Gedankenlosigkeit oder dem Nachdenken über das Leben, das womöglich das ganze Leben über zurückstehen musste.
Neben die Aktivität tritt endlich die in der Kultur der Moderne nicht geliebte Passivität. Die Lebenskunst beim Älterwerden verfügt über beide Optionen, um das Leben auf erfüllte Weise zu leben: noch aktiv zu sein, sich weiterzubilden, sich zu engagieren und Geselligkeit zu pflegen – oder ganz im Gegenteil passiv zu sein, sich zurückzuziehen, nur für sich und die Familie da zu sein und das gesellschaftliche Leben mit dem Blick von außen zu betrachten, mit der gelassenen Distanz, die in der alltäglichen Aufgeregtheit allzu oft fehlt.
Im besten Fall überwiegt die Dankbarkeit für das Leben alle Beschwerlichkeiten des Alters. Sie kann die gelöste Heiterkeit des Alters sein!
BIBELSTELLEN-TEXTE ZUM NACHSINNEN
Der Schmuck junger Männer ist ihre Kraft, und die Würde der Alten ist ihr graues Haar. Sprüche 20,29
Steht in Gegenwart alter Menschen auf und begegnet ihnen mit Respekt. Habt Ehrfurcht vor mir, dem HERRN, eurem Gott! (3Mose 19,32)
„Ich dachte: Mag erst das Alter reden, die Fülle der Jahre Weisheit künden. Doch es ist der Geist im Menschen und der Hauch des Allmächtigen, der ihn verständig macht. Die Betagten sind nicht (immer) weise und die Alten verstehen nicht (immer), was Recht ist“ (Hi 32,7−9)
Von Anfang an habe ich euch getragen, seit eurer Geburt sorge ich für euch. Ich bleibe derselbe; ich werde euch tragen bis ins hohe Alter, bis ihr grau werdet. Ich, der Herr, habe es bisher getan, und ich werde euch auch in Zukunft tragen und retten. (Jesaja 46,4)
Das Alter ist keine Krankheit. Es ist auch kein Problem, das gelöst werden müsste. Das Alter ist eine Lebensphase, die ausgelebt werden muss. (Barbara Deane)
GEBET
Psalm 71 in Auswahl