Im Glaubensleben gibt es kein größeres Unglück als in einer Scheinrealität zu leben. Das echte Glaubensleben ist keine Flucht vor der Realität, sondern eine absolute Hinwendung zu ihr.
Hinter jedem Verlust steckt eine Begrenzung. Wir können nicht alles sein oder alles tun, was wir gerne möchten. Die meisten von uns erfahren ihre Verluste langsam, über ein ganzes Leben verteilt, bis wir uns schließlich auf der Schwelle des Todes befinden und alles hinter uns lassen. Wir verlieren unsere Jugend – trotz aller Cremes und Eingriffe – wir verlieren unsere Träume, wir verlieren unsere vertrauten Alltagsabläufe und Stabilität in Umbruchphasen.
Die meisten von uns erleben ein- oder mehrmals im Leben einen katastrophalen Verlust. Ein Familienmitglied stirbt unerwartet. Ein Freund oder Kind begeht Suizid. Der Ehepartner hat eine Affäre. Nach einer schmerzvollen Scheidung oder Trennung sind wir wieder allein. Wir erkranken an Krebs. Unsere Firma baut Stellen ab. Ein verlässlicher Freund hintergeht uns.
Wir trauern um die vielen Dinge, die wir nicht können. Wir betrauern unsere Begrenzungen.
Wenn wir unseren Schmerz über Jahre hinweg verleugnen, führt das tragsicher Weise nur dazu, dass wir unser Menschsein mehr und mehr reduzieren und wir zu christlichen Masken mit einem aufgemalten Lächeln werden. Für einige endet es in einer stumpfen latenten Depression, die ihnen jedes Interesse an der Realität nimmt.
Doch es gehört zum Kern des Christentums, dass man durch den Tod zum Leben gelangt, dass der Weg zur Auferstehung durch den Karfreitag hindurchführt. Das hier zu schreiben, ist natürlich deutlich einfacher als es zu leben. Gerald Sittser beschreibt in seinem Buch „Trotzdem will ich das Leben lieben“, wie er durch einen tragischen Verkehrsunfall seine Mutter, seine Frau und seine kleine Tochter verlor. Er entschied sich dafür, nicht vor seinem Verlust davonzulaufen, sondern direkt in die Dunkelheit hineinzugehen, und zuzulassen, dass diese Tragödie sein Leben verändert. Er erkannte, dass der schnellste Weg, um Sonne zu erreichen, nicht nach Westen führt, wo man ihr hinterherläuft, sondern nach Osten in die Dunkelheit, bis man schließlich den Sonnenaufgang erreicht. [1]
Der Tod Jesu, der ein ansteckendes, dynamisches, begeisterndes Leben beendete, erschien seinen Jüngern und Nachfolgern als enormer Verlust. Im Bibeltext werden zwei verschiedene Weisen deutlich, mit diesem Verlust umzugehen: die von Petrus und die von Jesus. Lies dazu: Matthäus 26,31−44
- Petrus hat viel für Jesus und das von ihm verkündete Königreich investiert; er hat alles verlassen und ist Jesus gefolgt. Wie hat Petrus auf die schockierende Vorankündigung Jesu, er werde sterben, reagiert? (Verse 31–35)
- Hier folgt eine Liste von Abwehrmechanismen, die wir gebrauchen, um uns vor Verlust und Trauer zu schützen. Markiere die Muster, die Petrus benutzt, um sich vor der schmerzlichen Realität zu schützen:
- Verneinung (nicht wahrhaben wollen)
- Herunterspielen (es läuft zwar was falsch, das aber wird verharmlost)
- Anderen (Gott) die Schuld zuschieben
- Das Ganze ‚vergeistlichen’
- Selbstvorwürfe
- Rationalisieren (Ausreden und Entschuldigungen finden)
- Intellektualisieren (Analysen und Theorien aufstellen, um persönliche Erkenntnisse und schwierige Gefühle zu vermeiden)
- Ablenkung
- Feindselig werden
- Betäubung (Pillen schlucken oder anderes, evtl. verbunden mit Sucht oder anderen ungesunden Bindungen)
- Kannst du anhand der Liste Schutzmechanismen erkennen, die du selbst benutzt, um mit Verlust und Rückschlägen umzugehen? Warum verhältst du dich so?
- Es ist wichtig, dass Jesus „wahrer Mensch und wahrer Gott“ war, ganzer Mensch und zugleich ganz Gott. Betrachte Jesus in den Versen 36–41. Wie geht er im Gegensatz zu der obigen Liste mit dem bevorstehenden Verlust um, und wie bewältigt er ihn?
- Was an der Trauer Jesu spricht dich besonders an, vor allem wenn du an deine eigene Trauer und an deine persönlichen Verluste denkst?
- Eine der zentralen Botschaften des christlichen Glaubens ist es, dass Leiden und Tod Auferstehung und neues Leben bringen. Gibt es Verlusten in deinem Leben, die du noch nicht angenommen hast und wo sich das neue Leben noch nicht zeigt?
GEBET
[1] Gerald Sittser, Trotzdem will ich das Leben lieben (Gießen: Brunnen 2006), 37–38