Be­rüh­rungs­ängs­te

Be­rüh­rungs­ängs­te

Le­ben ler­nen durch den Tod – Ster­ben ge­hört zum Le­ben. Trotz­dem ver­drän­gen vie­le den Ge­dan­ken dar­an – so lan­ge, bis er uns plötz­lich ein­holt. Da­bei ver­lie­ren wir da­durch ei­nen wich­ti­gen Ori­en­tie­rungs­punkt im Le­ben. Die End­lich­keit gibt un­se­rem Le­ben Struk­tur und Tie­fe. Wer um die be­grenz­te Zeit weiß, ent­schei­det be­wuss­ter: Wel­cher Job er­füllt mich wirk­lich? Mit wel­chen Men­schen will ich mei­ne Zeit ver­brin­gen? Wil­liam Wal­lace spricht da­her die wei­sen Wor­te im Film Braveheart:

„Ster­ben muss je­der ein­mal, aber wahr­haf­tig le­ben, das kön­nen nur wenige!“

Welch wah­re und tie­fe Ein­sicht. Der Tod ist si­cher, das Le­ben aber nicht.

Prak­ti­sche Übun­gen für den Alltag
Es braucht nicht viel, um sich mit dem ei­ge­nen Tod aus­ein­an­der­zu­set­zen – nur die Be­reit­schaft, hin­zu­schau­en. Hier ein paar kon­kre­te Übungen:

  • Die „Ein-Mo­nat-Übung“: Stell dir vor, du hät­test nur noch vier Wo­chen zu leben.
    • Was wür­dest du noch tun?
    • Wen willst du un­be­dingt se­hen oder anrufen?
    • Was wür­dest du loslassen?

Die­se Übung hilft, Prio­ri­tä­ten neu zu set­zen – im Klei­nen wie im Großen.

  • „Ster­be­me­di­ta­tio­nen“ oder Vi­sua­li­sie­run­gen“: Man­che Men­schen ge­hen wei­ter, in­dem sie sich ihre ei­ge­ne Be­er­di­gung vor­stel­len oder ei­nen letz­ten Brief schrei­ben. Auch das kann be­frei­end wirken.
  • „Täg­li­ches Los­las­sen“ üben: Der Ab­schied ge­hört zum Le­ben. Je­den Tag ver­lie­ren wir et­was: ei­nen Mo­ment, eine Ge­le­gen­heit, eine Pha­se. Wer das be­wusst wahr­nimmt, wird ge­las­se­ner im Um­gang mit dem gro­ßen Los­las­sen am Lebensende.

Den Tod da las­sen, wo er ist – mit­ten im Leben
Wir ver­mei­den Ster­ben­de. Da­bei kann ge­ra­de die Be­geg­nung mit ih­nen eine heil­sa­me Er­fah­rung sein. Wenn die Tan­te, der Opa, ein Nach­bar im Ster­ben liegt, geh hin, auch wenn es dir un­an­ge­nehm ist. Das stärkt nicht nur die Be­zie­hung, son­dern auch den ei­ge­nen Um­gang mit der Endlichkeit.

Kin­der dür­fen über den Tod spre­chen – ja, sie soll­ten sogar
Oft wol­len Er­wach­se­ne Kin­der „schüt­zen“ und ver­schwei­gen ih­nen den Tod. Da­bei macht es Kin­der stark, wenn sie be­grei­fen, dass zum Le­ben auch Ab­schied ge­hört. Ein kind­ge­rech­tes Ge­spräch über den Tod – ehr­lich, aber lie­be­voll – kann lang­fris­tig mehr Si­cher­heit und Ver­trau­en schaffen.

Angst vor dem Ster­ben – nicht vor dem Tod
Vie­le Men­schen fürch­ten nicht den Tod an sich, son­dern den Weg dort­hin: Schmerz, Ab­hän­gig­keit, Kon­troll­ver­lust. Wis­sen kann hier hel­fen: Wer weiß, dass es Pal­lia­tiv­ver­sor­gung, Hos­pi­ze und Schmerz­the­ra­pie gibt, fühlt sich nicht al­lein. Auch die Psy­che kann be­ru­higt wer­den – durch Ge­sprä­che, durch das Wis­sen, dass man be­glei­tet wird.

Kei­ne Angst vor der Trauer
Trau­er ist der Preis, den man für die Lie­be zahlt. Mit der Trau­er lö­sen wir uns von ei­ner Be­zie­hung zu ei­nem ge­lieb­ten Men­schen, aber auch von der Be­zie­hung von et­was, das uns sehr wich­tig war. Wir neh­men die mit der Trau­er ver­bun­de­nen Ge­füh­le – und es sind ver­schie­de­ne – wahr und kom­men da­durch wie­der mehr zu uns selbst. Manch­mal zie­hen wir uns zu­rück und wei­nen, manch­mal schluch­zen wir öf­fent­lich. Manch­mal ge­hen wir tan­zen bis zur Er­schöp­fung, manch­mal lie­gen wir ta­ge­lang nur rum – al­les in Ord­nung. Ob ir­gend­was da­von an­ge­mes­se­ner ist oder wie lan­ge die Trau­er dau­ern muss, lässt sich nicht de­fi­nie­ren; es gibt da­für kei­ne Faust­re­gel. Vor al­lem müs­se man die Ver­lust­re­ak­ti­on er­tra­gen und den Schmerz und die Ein­sam­keit aus­hal­ten ler­nen – auch mit Hil­fe von Ablenkung.

Ak­zep­tanz durch in­ne­re Haltung
Der Um­gang mit dem Tod ist auch eine Fra­ge der in­ne­ren Deu­tung. Eine hoff­nungs­vol­le Per­spek­ti­ve kommt aus dem Glau­ben. Das Kreuz steht im Mit­tel­punkt. Gott selbst nimmt den Tod auf sich, um den Men­schen eine Zu­kunft und ein Le­ben mit ewi­ger Qua­li­tät zu er­mög­li­chen. Denn das Kreuz wird über­wun­den durch das lee­re Grab. Gott zeigt der Mensch­heit, dass es eine Lö­sung für das Pro­blem ih­rer End­lich­keit gibt. Das Pro­blem mei­nes To­des ist an die­sem Kreuz ge­löst wor­den: So wie Gott sei­nen Sohn nicht dem Tod über­las­sen hat, will er auch mich nicht dem Tod überlassen:

Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo bleibt nun dei­ne Macht? (…) Dank sei Gott! Er schenkt uns den Sieg durch Je­sus Chris­tus, un­se­ren Herrn!“ (1. Ko­rin­ther 15,55.57)

Der Tod als Lebenslehrer
Am Ende ver­än­dert die Be­schäf­ti­gung mit dem Tod un­ser Ver­hält­nis zum Le­ben. Der Tod ist bes­ser als sein Ruf. Nicht nur das wür­di­ge Ster­ben, auch das gute Le­ben fällt uns schwer. Das Le­ben ist und bleibt be­grenzt. Das soll nicht in ein emo­tio­na­les Tief zie­hen und de­pres­siv wer­den las­sen. Ganz im Ge­gen­teil. Das Ziel ist, das Le­ben in sei­ner gan­zen Tie­fe zu be­grei­fen, kla­re Prio­ri­tä­ten zu ge­win­nen und die Zeit nicht un­ge­nutzt ver­strei­chen zu las­sen. Denn nicht der Tod an sich ist das Pro­blem, son­dern wel­che Be­deu­tung wir ihm ge­ben und die Ge­fahr ei­nes un­ge­nutz­ten Lebens.

Ein Vers von Rai­ner Ma­ria Ril­ke fasst die­se Hal­tung gut zusammen:

Ich lebe mein Le­ben in wach­sen­den Ringen,
die sich über die Din­ge zieh’n.
Ich wer­de den letz­ten viel­leicht nicht vollbringen,
aber ver­su­chen will ich ihn.

GE­BET
Gu­ter Gott,
ich dan­ke Dir für mein Le­ben,
für je­den neu­en Tag, den Du mir gibst
vol­ler Lie­be, Be­geg­nung und Hoffnung.
Doch Du weißt auch um mei­ne Angst vor dem Tod,
vor Ab­schied und Verlust,
vor dem, was ich nicht be­grei­fen kann.
Wenn Dun­kel­heit mein Herz erfüllt,
wenn ich traue­re um Men­schen, die ich liebe,
wenn Fra­gen of­fen blei­ben, sei Du bei mir.
Schen­ke mir Kraft, den Schmerz zu tragen,
Mut, dem Tod ins Auge zu sehen,
Trost, wenn mein Herz schwer ist.
und Ver­trau­en, dass Dei­ne Lie­be stär­ker ist als der Tod.
Lass mich spü­ren, dass Du mit mir gehst durchs Le­ben und Sterben.
Zeig mir, dass Dei­ne Lie­be bleibt über den Tod hinaus.
In Dir fin­de ich Halt, jetzt und für immer.
Amen.