An­stands­los

An­stands­los

Die Ethik be­schäf­tigt sich mit der Fra­ge, was wir tun und nicht tun sol­len. Die Tu­gend­ethik fo­kus­siert sich we­ni­ger auf Hand­lun­gen oder auf die Fol­gen ei­ner Hand­lung, son­dern auf den Cha­rak­ter ei­ner Per­son. Klas­si­sche Bei­spie­le für ex­zel­len­te Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten, so­ge­nann­te Tu­gen­den, sind Weis­heit oder Klug­heit, Tap­fer­keit, Ge­rech­tig­keit und Selbst-Be­herr­schung. Die Tu­gend­ethik ver­sucht ethi­sche Fra­gen zu be­ant­wor­ten, in­dem sie fragt, was eine tu­gend­haf­te Per­son in ei­ner be­stimm­ten Si­tua­ti­on tun wür­de. Laut Aris­to­te­les ist die Tu­gend die Mit­te zwi­schen den bei­den fal­schen Wei­sen, die durch Über­maß und Un­zu­läng­lich­keit cha­rak­te­ri­siert sind:

  1. Neh­men wir bei­spiels­wei­se den Mut. Zu viel Mut ist Über­mut und Leicht­sinn, zu we­nig Mut ist Feig­heit. Nur wenn man das rech­te Maß fin­det, ist Mut eine Tugend.
  2. Ge­nau­so ist es bei der Lie­be. Lie­ben El­tern z.B. ihr Kind über­schwäng­lich und zei­gen ihm kei­ne kla­ren Gren­zen, wird es ver­wöhnt. Ge­ben sie zu we­nig Lie­be, in­dem sie zu streng sind, ver­un­si­chern sie das Kind und es wird nicht selbst­be­wusst werden.
  3. Als drit­tes Bei­spiel mag uns die Freund­lich­keit die­nen. Den über­trie­ben Freund­li­chen nennt Aris­to­te­les lie­be­die­ne­risch, den über­trie­ben Un­freund­li­chen Streit­hahn und Widerborst.

Die wah­re Tu­gend ge­schieht aus frei­em Wil­len. Wenn ich bei­spiels­wei­se hilfs­be­reit bin, um mir die Zu­nei­gung ei­nes Freun­des oder die Gunst ei­nes Vor­ge­setz­ten zu „er­kau­fen“, dann ge­schieht dies nicht aus frei­em Wil­len, son­dern aus Be­rech­nung. Nur wenn ich durch mei­ne Hand­lung kei­nen Vor­teil er­war­te, ist sie wahr­lich tugendhaft.

Eine häu­fig ge­nann­te Kri­tik an der Tu­gend­ethik ist, dass sie nicht in der Lage ist, kon­kre­te Ant­wor­ten zu lie­fern. Sie bie­tet kei­ne Re­geln oder Prin­zi­pi­en an, die man „me­cha­nisch“ auf ethi­sche Pro­ble­me an­wen­den könn­te. Doch ge­nau in die­sem an­geb­li­chen Man­gel liegt die Stär­ke der Tu­gend­ethik. Es ist ei­nes der Cha­rak­te­ris­ti­ka der Tu­gend­ethik, dass sie nicht ge­nau­er sein will, als sie sein kann. Sie kann nur um­rei­ßen, was das Gute ist. Aber be­stim­men, wie es sich im Ein­zel­fall im Han­deln aus­drückt, muss ein je­der selbst. Sie gibt uns eine Ori­en­tie­rung, wie wir bes­ser im Le­ben wer­den kön­nen durch das An­eig­nen von gu­ten Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten oder durch das Ab­ge­wöh­nen von schlech­ten. Wäre es an­ders, wür­den wir kei­ne wei­te­ren Le­bens­er­fah­run­gen mehr ma­chen und un­se­re Le­bens­klug­heit könn­te nicht wachsen.

Tu­gen­den ver­än­dern uns: Frü­he­res Han­deln, alte Ent­schei­dun­gen wir­ken nach auf per­sön­li­che Hal­tun­gen und den Cha­rak­ter. Durch Ge­wöh­nung ist der Mensch auf psy­cho­lo­gi­scher und mo­ra­li­scher Ebe­ne form­bar. Wir müs­sen nicht blei­ben, wer und wie wir sind!
Tu­gen­den be­ein­flus­sen da­her die ver­schie­de­nen Dis­po­si­tio­nen zum Han­deln und un­se­re Fä­hig­kei­ten, die wir ver­än­dern, kor­ri­gie­ren und per­fek­tio­nie­ren kön­nen. Tu­gen­den sind des­halb ge­nau­so ein­zig­ar­tig wie der Mensch. Ihre kon­kre­te Aus­ge­stal­tung bil­det sich auf der Grund­la­ge der per­sön­li­chen Ein­ma­lig­keit und In­te­gri­tät heraus.
Es ist wich­tig zu er­ken­nen, dass sich Tu­gen­den im Lau­fe der Zeit ent­wi­ckeln und ent­spre­chen­de Pra­xis brau­chen.  So for­men wir uns selbst, auch un­se­re Wün­sche und in­ne­ren An­trie­be. Man­che Tu­gen­den prä­gen Emo­tio­nen (die mo­ra­li­schen Tu­gen­den der Selbst­kon­trol­le und des Mu­tes). An­de­re Tu­gen­den ver­än­dern den Wil­len (Ge­rech­tig­keit und hin­ge­bungs­vol­le Lie­be) oder for­men den In­tel­lekt (die in­tel­lek­tu­el­len Tu­gen­den der Weis­heit, des Wis­sens und Ver­ste­hens). Tu­gen­den neh­men so Ein­fluss auf Cha­rak­ter­bil­dung und Persönlichkeitsentwicklung.

In­dem Men­schen an ih­ren Tu­gen­den ar­bei­ten, stre­ben sie da­nach, bes­se­re Ver­sio­nen ih­rer selbst zu wer­den, was nicht nur ihr ei­ge­nes Le­ben be­rei­chert, son­dern auch ihre Ge­mein­schaf­ten po­si­tiv be­ein­flusst. Es geht dar­um sei­nem frü­he­ren Ich über­le­gen zu sein und nicht den an­de­ren Mit­men­schen. In ei­ner zu­neh­mend in­di­vi­dua­li­sier­ten Ge­sell­schaft be­tont die Tu­gend­ethik die Be­deu­tung von Be­zie­hun­gen und Ge­mein­schaf­ten. Tu­gen­den wie Ehr­lich­keit, Loya­li­tät und Groß­zü­gig­keit för­dern ver­trau­ens­vol­le und ko­ope­ra­ti­ve so­zia­le In­ter­ak­tio­nen. Be­reits Aris­to­te­les und Tho­mas von Aquin wei­sen dar­auf hin, wie Nächs­ten­lie­be und Freund­schaft die Be­reit­schaft und die Mo­ti­va­ti­on zu selbst­lo­sem En­ga­ge­ment för­dern. So wer­den die ver­schie­de­nen Tu­gen­den in uns zur per­sön­li­chen Ein­heit geführt.
Au­ßer­dem er­wer­ben wir Tu­gend­hal­tun­gen (ha­bi­tus) durch die Be­geg­nung mit Men­schen, die sol­che krea­tiv und au­then­tisch vor­le­ben. Weil wir die­se Vor­bil­der emo­tio­nal be­wun­dern, mo­ti­vie­ren sie uns zum Er­werb die­ser Ei­gen­schaf­ten. In­dem die Tu­gend­ethik den Fo­kus auf Cha­rak­ter­bil­dung und mo­ra­li­sche In­te­gri­tät legt, bie­tet sie eine wert­vol­le Grund­la­ge für in­di­vi­du­el­le und ge­sell­schaft­li­che Entwicklung.

Die wirk­li­chen Her­aus­for­de­run­gen des Men­schen lie­gen im All­tag. In Not­si­tua­tio­nen oder un­ter be­son­de­ren Um­stän­den ist es oft leicht, über sich hin­aus­zu­wach­sen und un­ge­ahn­te Po­ten­zia­le zu ak­ti­vie­ren. Der gan­ze Or­ga­nis­mus ist in Alarm­be­reit­schaft und des­halb sind wir un­ge­heu­er leis­tungs­fä­hig. Nach der Über­an­stren­gung fal­len wir dann in un­se­ren vor­he­ri­gen Zu­stand zu­rück. Wah­res in­ne­res Wachs­tum hin­ge­gen geht sehr lang­sam. Man be­nö­tigt je­den Tag eine klei­ne An­stren­gung. Die ist nicht spek­ta­ku­lär und dra­ma­tisch. Es braucht Wil­lens­kraft und Be­wusst­sein. Und ge­nau über die­se Fä­hig­kei­ten ver­fügt je­der Mensch!

In der Praxis:
Wenn vor un­se­ren Au­gen eine Un­ge­rech­tig­keit ge­schieht und wir nur weg­se­hen und vor­bei­lau­fen, soll­ten wir uns nicht viel­leicht schä­men, dass wir so pas­siv sind? Ver­ur­tei­len wir nicht sel­ber Men­schen hart, die fei­ge und ta­ten­los sind? Was wür­den un­se­re Hel­den von uns den­ken, de­ren Mut wir so sehr be­wun­dern, wenn wir ein­fach per­ma­nent jede Ver­ant­wor­tung von uns weisen?
Wenn wir im Dis­kurs alle Ge­gen­mei­nun­gen pau­schal als ko­misch, dumm oder idio­tisch ab­win­ken, ohne uns aus­reich­lich mit ih­nen be­schäf­tigt zu ha­ben, sind wir dann wirk­lich bes­ser als die­je­ni­gen, die un­se­re Mei­nun­gen pau­schal miss­bil­li­gen? Ist ein Be­har­ren auf die ei­ge­ne Mei­nung nicht die Ei­gen­schaft ei­nes Stur­kop­fes oder ei­nes Denk­fau­len? Wä­ren die gro­ßen Den­ker und Wis­sen­schaft­ler, de­ren Weis­heit wir so sehr be­wun­dern, nicht ent­täuscht von uns, wenn wir je­des Ge­spräch von An­fang an mit Ver­schlos­sen­heit begegnen?

 

GE­BET
Weil Gott mich woll­te, wie ich bin, sag ich Ja zu mir.
Weil Gott an mich glaubt, glau­be ich an mich selbst.
Weil Gott mir ver­traut, ver­trau auch ich mir.
Weil Gott mit mir rech­net, zö­ge­re ich nicht.
Weil Gott auf mich baut, trau ich mir selbst et­was zu.
Weil Gott mich be­glei­tet, bre­che ich auf.
Stär­ke mich, Herr.
Be­glei­te mich, Herr.
Be­schüt­ze mich, Herr.
Amen.