Die Ethik beschäftigt sich mit der Frage, was wir tun und nicht tun sollen. Die Tugendethik fokussiert sich weniger auf Handlungen oder auf die Folgen einer Handlung, sondern auf den Charakter einer Person. Klassische Beispiele für exzellente Charaktereigenschaften, sogenannte Tugenden, sind Weisheit oder Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Selbst-Beherrschung. Die Tugendethik versucht ethische Fragen zu beantworten, indem sie fragt, was eine tugendhafte Person in einer bestimmten Situation tun würde. Laut Aristoteles ist die Tugend die Mitte zwischen den beiden falschen Weisen, die durch Übermaß und Unzulänglichkeit charakterisiert sind:
- Nehmen wir beispielsweise den Mut. Zu viel Mut ist Übermut und Leichtsinn, zu wenig Mut ist Feigheit. Nur wenn man das rechte Maß findet, ist Mut eine Tugend.
- Genauso ist es bei der Liebe. Lieben Eltern z.B. ihr Kind überschwänglich und zeigen ihm keine klaren Grenzen, wird es verwöhnt. Geben sie zu wenig Liebe, indem sie zu streng sind, verunsichern sie das Kind und es wird nicht selbstbewusst werden.
- Als drittes Beispiel mag uns die Freundlichkeit dienen. Den übertrieben Freundlichen nennt Aristoteles liebedienerisch, den übertrieben Unfreundlichen Streithahn und Widerborst.
Die wahre Tugend geschieht aus freiem Willen. Wenn ich beispielsweise hilfsbereit bin, um mir die Zuneigung eines Freundes oder die Gunst eines Vorgesetzten zu „erkaufen“, dann geschieht dies nicht aus freiem Willen, sondern aus Berechnung. Nur wenn ich durch meine Handlung keinen Vorteil erwarte, ist sie wahrlich tugendhaft.
Eine häufig genannte Kritik an der Tugendethik ist, dass sie nicht in der Lage ist, konkrete Antworten zu liefern. Sie bietet keine Regeln oder Prinzipien an, die man „mechanisch“ auf ethische Probleme anwenden könnte. Doch genau in diesem angeblichen Mangel liegt die Stärke der Tugendethik. Es ist eines der Charakteristika der Tugendethik, dass sie nicht genauer sein will, als sie sein kann. Sie kann nur umreißen, was das Gute ist. Aber bestimmen, wie es sich im Einzelfall im Handeln ausdrückt, muss ein jeder selbst. Sie gibt uns eine Orientierung, wie wir besser im Leben werden können durch das Aneignen von guten Charaktereigenschaften oder durch das Abgewöhnen von schlechten. Wäre es anders, würden wir keine weiteren Lebenserfahrungen mehr machen und unsere Lebensklugheit könnte nicht wachsen.
Tugenden verändern uns: Früheres Handeln, alte Entscheidungen wirken nach auf persönliche Haltungen und den Charakter. Durch Gewöhnung ist der Mensch auf psychologischer und moralischer Ebene formbar. Wir müssen nicht bleiben, wer und wie wir sind!
Tugenden beeinflussen daher die verschiedenen Dispositionen zum Handeln und unsere Fähigkeiten, die wir verändern, korrigieren und perfektionieren können. Tugenden sind deshalb genauso einzigartig wie der Mensch. Ihre konkrete Ausgestaltung bildet sich auf der Grundlage der persönlichen Einmaligkeit und Integrität heraus.
Es ist wichtig zu erkennen, dass sich Tugenden im Laufe der Zeit entwickeln und entsprechende Praxis brauchen. So formen wir uns selbst, auch unsere Wünsche und inneren Antriebe. Manche Tugenden prägen Emotionen (die moralischen Tugenden der Selbstkontrolle und des Mutes). Andere Tugenden verändern den Willen (Gerechtigkeit und hingebungsvolle Liebe) oder formen den Intellekt (die intellektuellen Tugenden der Weisheit, des Wissens und Verstehens). Tugenden nehmen so Einfluss auf Charakterbildung und Persönlichkeitsentwicklung.
Indem Menschen an ihren Tugenden arbeiten, streben sie danach, bessere Versionen ihrer selbst zu werden, was nicht nur ihr eigenes Leben bereichert, sondern auch ihre Gemeinschaften positiv beeinflusst. Es geht darum seinem früheren Ich überlegen zu sein und nicht den anderen Mitmenschen. In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft betont die Tugendethik die Bedeutung von Beziehungen und Gemeinschaften. Tugenden wie Ehrlichkeit, Loyalität und Großzügigkeit fördern vertrauensvolle und kooperative soziale Interaktionen. Bereits Aristoteles und Thomas von Aquin weisen darauf hin, wie Nächstenliebe und Freundschaft die Bereitschaft und die Motivation zu selbstlosem Engagement fördern. So werden die verschiedenen Tugenden in uns zur persönlichen Einheit geführt.
Außerdem erwerben wir Tugendhaltungen (habitus) durch die Begegnung mit Menschen, die solche kreativ und authentisch vorleben. Weil wir diese Vorbilder emotional bewundern, motivieren sie uns zum Erwerb dieser Eigenschaften. Indem die Tugendethik den Fokus auf Charakterbildung und moralische Integrität legt, bietet sie eine wertvolle Grundlage für individuelle und gesellschaftliche Entwicklung.
Die wirklichen Herausforderungen des Menschen liegen im Alltag. In Notsituationen oder unter besonderen Umständen ist es oft leicht, über sich hinauszuwachsen und ungeahnte Potenziale zu aktivieren. Der ganze Organismus ist in Alarmbereitschaft und deshalb sind wir ungeheuer leistungsfähig. Nach der Überanstrengung fallen wir dann in unseren vorherigen Zustand zurück. Wahres inneres Wachstum hingegen geht sehr langsam. Man benötigt jeden Tag eine kleine Anstrengung. Die ist nicht spektakulär und dramatisch. Es braucht Willenskraft und Bewusstsein. Und genau über diese Fähigkeiten verfügt jeder Mensch!
In der Praxis:
Wenn vor unseren Augen eine Ungerechtigkeit geschieht und wir nur wegsehen und vorbeilaufen, sollten wir uns nicht vielleicht schämen, dass wir so passiv sind? Verurteilen wir nicht selber Menschen hart, die feige und tatenlos sind? Was würden unsere Helden von uns denken, deren Mut wir so sehr bewundern, wenn wir einfach permanent jede Verantwortung von uns weisen?
Wenn wir im Diskurs alle Gegenmeinungen pauschal als komisch, dumm oder idiotisch abwinken, ohne uns ausreichlich mit ihnen beschäftigt zu haben, sind wir dann wirklich besser als diejenigen, die unsere Meinungen pauschal missbilligen? Ist ein Beharren auf die eigene Meinung nicht die Eigenschaft eines Sturkopfes oder eines Denkfaulen? Wären die großen Denker und Wissenschaftler, deren Weisheit wir so sehr bewundern, nicht enttäuscht von uns, wenn wir jedes Gespräch von Anfang an mit Verschlossenheit begegnen?
GEBET
Weil Gott mich wollte, wie ich bin, sag ich Ja zu mir.
Weil Gott an mich glaubt, glaube ich an mich selbst.
Weil Gott mir vertraut, vertrau auch ich mir.
Weil Gott mit mir rechnet, zögere ich nicht.
Weil Gott auf mich baut, trau ich mir selbst etwas zu.
Weil Gott mich begleitet, breche ich auf.
Stärke mich, Herr.
Begleite mich, Herr.
Beschütze mich, Herr.
Amen.