Das Schlagwort der Gerechtigkeit taucht meist im Kontext von finanziellen Forderungen und moralisierenden Anklagen auf. Es geht heute in der Regel um Gerechtigkeitsforderungen und ‑ansprüche, was bei denen, die einseitig gefordert und angeklagt werden sollen, verständlicherweise eher Abwehrreaktionen und Rechtfertigungsversuche provoziert. So droht der Gerechtigkeitsbegriff zum Schlagwort des Verteilungskampfes zwischen arm und reich, jung und alt, Unterschicht und Oberschicht usw. zu werden.
Im Gegensatz zum deutschen Begriff »Gerechtigkeit«, der auf die Erfüllung einer formalen Rechtsnorm zielt, geht es beim biblischen Verständnis von »Gerechtigkeit« immer um Beziehung.
Kriterium dafür, was falsch und richtig ist, ist die Frage, ob es der Gemeinschaft dient oder ihr schadet. Maßstab ist nicht ein gesetztes Recht, sondern die soziale Beziehung zu den betroffenen Menschen. Gerechtigkeit erweist sich in dem Tun, das in Treue zur Gemeinschaft geschieht und ihr förderlich ist.
Seinen Grund hat dieses Tun in Gott, der sich mit seinem unterdrückten Volk solidarisiert, am Sinai seinen Bund mit ihm geschlossen hat und treu dazu steht. Er ist es, der durch sein Handeln Gerechtigkeit bewirkt. Somit gibt er den Menschen die Möglichkeit, ihrerseits Gerechtes untereinander zu tun. Solch ein Handeln steht in Korrespondenz zu diesem Gott, der vorrangig für die Unterdrückten und Schwachen Partei ergreift. Er nimmt die, die ihrer Rechte beraubt worden sind, wahr. Er lässt sich von ihrer Not anrühren und schafft ihnen Recht.
Diese Art des Handelns Gottes, Gerechtigkeit zum Zuge kommen zu lassen, ist kein einmaliger Vorgang, sondern durchzieht die ganze weitere Geschichte mit seinem Volk – besonders dann, wenn es in seinen eigenen Reihen es zu solch ungerechten Verhältnissen kommen lässt, unter denen es in Ägypten hat leiden müssen.
Kein anderer Text im Alten Testament macht das so klar wie der Drohspruch des Propheten Jeremias gegen den König Jojakim: „Bist du etwa König, um mit Zedernholz zu protzen? Hat dein Vater nicht auch gegessen und getrunken und trotzdem Recht und Gerechtigkeit geübt? Und es ging ihm gut. Er half dem Recht der Schwachen und Armen zum Sieg. – Das war gut! – Bedeutet dies nicht, mich zu kennen? – so Gottes Spruch“ (Jer 22,15f.). Die Aussage dieses Textes ist eindeutig: Bedingung Gott zu erkennen und zu kennen, ist, dass Gerechtigkeit praktiziert wird. Jenseits von Gerechtigkeit und Recht ist keine Beziehung zu Gott möglich. Um nicht missverstanden zu werden: Die Logik lautet nicht, dass sich Gott erst zu erkennen gibt, nachdem der Mensch gerecht gehandelt und Gutes bewirkt hat. Sondern weil sich Gott seinerseits den Menschen als der gerecht Handelnde offenbart hat, entsprechen die Menschen ihrerseits ihm nur und erkennen ihn, wenn sie gerecht handeln, d.h. insbesondere sich für die Armen und Benachteiligten einsetzen.
An die Schrift und die Propheten anknüpfend sagte Jesus eine Herrschaft eben dieses Gottes an, die eine totale Umkehrung der herrschenden Verhältnisse – sowohl mit Blick auf die inneren Einstellungen der Menschen als auch hinsichtlich der Weise ihres Umgangs miteinander bis in die Politik und Ökonomie hinein – mit sich bringt. Die Rangunterschiede greifen nicht mehr bzw. werden auf den Kopf gestellt. Nicht die Konkurrenz um den ersten Platz und die damit verbundene Macht geben den Ton an, sondern gegenseitiger Dienst und Solidarität bilden die leitenden Maximen für das Zusammenleben. Eine Praxis der Gerechtigkeit setzt sich durch, die sich von der Sorge leiten lässt, dass allen das Lebensnotwendige für sie selbst und die ihnen Anvertrauten zur Verfügung steht und niemandem die Partizipation an einem solchen Zusammenleben vorenthalten wird.
So erklärt sich der Unterschied zwischen der blinden Iusitita und Gott:
Iustitia ist blind, um sich nicht vom persönlichen Schicksal der Menschen beeinflussen zu lassen. Der Hintergrund & die Geschichte, die der einzelne mitbringen, interessieren eben nicht. Sie trägt eine Waage, um die Tat gegen das geltende Recht aufzuwiegen und schließlich mit dem Schwert die notwendige und entsprechende Strafe zu vollziehen.
Gott ist nicht blind, er sieht die Bedürftigkeit, einmalige Geschichte und den Weg des Einzelnen. Er wiegt nicht Tat gegen Recht auf, sondern reagiert mit grenzenloser Barmherzigkeit und Liebe anstatt mit dem Schwert. Sein Ziel ist nicht Strafe, sondern Leben in Fülle, Neubeginn – immer wieder. Das ist manchmal schwer auszuhalten (s. Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg: Mt 20, 1–16)
Wer garantiert die Rechtsordnung einer Gesellschaft? Beruht Gerechtigkeit auf der Übereinkunft der Mitglieder einer Gemeinschaft in Form eines Gesellschaftsvertrags, wie in der Antike Epikur, am Beginn der Neuzeit Thomas Hobbes, später dann Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant argumentierten? Schließlich: Kann Gerechtigkeit auf den zwischenmenschlichen Bereich beschränkt werden, oder bedarf sie letztlich der Verankerung in einer dem Menschen nicht verfügbaren, göttlich verbürgten Ordnung? In der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ist bekanntlich von der Verantwortung des deutschen Volkes vor Gott und den Menschen die Rede, bevor in Artikel 1 die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte […] als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ genannt werden. Dies verdeutlicht, dass im Gerechtigkeitsbegriff Fragen des Rechts, der Ethik und der Religion miteinander verknüpft sind.
Erziehung zur Gerechtigkeit Römische Bischofssynode 1971:
„Erziehung zur Gerechtigkeit“ (De Iustitia in Mundo, Nr. 50–59). Scharfe Kritik findet darin „die heute noch vorwiegende Art der Erziehung“, da sie „einen engstirnigen Individualismus“ begünstige: „Ein Großteil der Menschen versinkt geradezu in maßloser Überschätzung des Besitzes. Schule und Massenmedien stehen nun einmal im Bann des etablierten ›Systems´ und können daher nur einen Menschen formen, wie dieses ›System´ ihn braucht, einen Menschen nach dessen Bild, keinen neuen Menschen, sondern nur eine Reproduktion des herkömmlichen Typs“ (De Iustitia in Mundo, Nr. 51). Wie demgegenüber eine „Erziehung zur Gerechtigkeit“ angelegt sein muss, wird programmatisch wie folgt umrissen: „Die Erziehung muß dringen auf eine ganz und gar menschliche Lebensweise in Gerechtigkeit, Liebe und Einfachheit. Sie muß die Fähigkeit wecken zu kritischem Nachdenken über unsere Gesellschaft und über die in ihr geltenden Werte sowie die Bereitschaft, diesen Werten abzusagen, wenn sie nicht mehr dazu beitragen, allen Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen“ (De Iustitia in Mundo, Nr. 52).
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